
OLG Oldenburg, Urteil vom 18. März 2020 – 5 U 196/18 – juris
- Im Falle schwerster und dauerhafter Schädigungen, die der Geschädigte in jungen Jahren bewusst erlebt und von denen anzunehmen ist, dass sie ihn lebenslang in der Lebensführung erheblich beeinträchtigen werden, kann ein Schmerzensgeld von 800.000 € angemessen sein.
- Das Bewusstsein um den Verlust der bisherigen Lebensqualität und die voraussichtlich lebenslange Dauer der Schädigungen sind maßgebliche Gesichtspunkte bei der Bemessung des Schmerzensgeldes.
- Schmerzensgelder, die wegen Verlustes der Persönlichkeit zugesprochen sind, taugen nicht als Referenzmaßstab für Fälle, in denen der Geschädigte ohne jede intellektuelle Einschränkung die Leiden und den Verlust lebenslang bewusst erlebt.
Fall:
Die Parteien stritten um Schmerzensgeld in Folge ärztlicher Behandlungsfehler. Der Kläger wurde im Alter von fünf Jahren unter Fieber und Schüttelfrost mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus der Beklagten gebracht. Erst am Morgen des nächsten Tages gegen 07:00 Uhr aus Anlass des Schichtwechsels wurden die Behandler auf großflächige dunkle Flecken im Gesicht und am Körper des Klägers aufmerksam, die sie zutreffend als hämorrhagische Nekrosen in Folge einer Meningokokkensepsis einordneten. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger bereits seit mehreren Stunden somnolent.
Wie das Landgericht Aurich mit rechtskräftigem Grundurteil, bestätigt durch das OLG Oldenburg, festgestellt hat, ist den Behandlern des Klägers in diesem Zusammenhang der Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers zu machen, weil der zuständige Pfleger den Zustand des Klägers morgens zwischen 03:00 und 04:00 Uhr trotz entsprechender Hinweise der Mutter ignorierte und trotz der erkennbaren hämorrhagischen Nekrosen keinen Arzt hinzuzog. Weiterhin war dem Pfleger als grobe Unterschreitung der Standards anzulasten, dass er in der irrigen Annahme, der somnolente Kläger schlafe, vermeintlich um ihn nicht zu wecken, darauf verzichtete, eine Braunüle wieder anzulegen, die sich der Kläger gezogen hatte. Letzteres führte dazu, dass dem ohnehin durch Fieber und wiederholtes Erbrechen dehydrierten Kläger über Stunden keine Flüssigkeit zugeführt wurde.
Nach Erkennen der Erkrankung wurde der Kläger unter der Diagnose einer Sepsis und eines Waterhouse-Friedrichsen-Syndroms (WFS) mit Purpura fulminans vom Intensivteam der Kinderklinik übernommen und per Rettungswagen in das Klinikum verbracht. Es folgte ein furchtbarer Leidensweg. Wir haben über das erstinstanzliche Urteil des LG Aurich in HSB 03/2019 ausführlich berichtet. Das Landgericht Aurich hat dem Kläger ein außergewöhnlich hohes Schmerzensgeld von 800.000 € zuerkannt. Dieses Urteil hat nunmehr das OLG Oldenburg in einem bemerkenswerten Urteil bestätigt, das wegen seiner Bedeutung für hohe Schmerzensgeldbeträge in der rechtlichen Beurteilung ausführlich dargestellt werden soll.
Rechtliche Beurteilung:
Das OLG hält die Art der Bemessung, wie sie das Landgericht vorgenommen hat, für zutreffend:
Die Entscheidung verlässt nicht den Referenzrahmen der Schmerzensgeld-entscheidungen anderer deutscher Gerichte und schließlich erweist sich auch die Bewertung im Einzelfall als zutreffend und angemessen.
Es gibt keinen angemessenen Betrag im Sinne einer a priori feststehenden absoluten Summe, die vom Gericht nur im Sinne eines arithmetischen Rechenvorgangs ermittelt werden müsste. Vielmehr handelt sich um eine Bewertung des Einzelfalls nach der Schwere der erlittenen Verletzungen, der hierdurch bedingten Leiden, deren Dauer, der subjektiven Wahrnehmung der Beeinträchtigungen für den Verletzten und des Ausmaßes des Schädigerverschuldens. Diese Bewertung benötigt zur Vermeidung einer Willkürentscheidung einen Referenzmaßstab. Dabei hält der Senat den (herkömmlichen) Weg, nämlich die maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalles herauszuarbeiten und sie dann in einer Gesamtabwägung unter Beachtung des Systems vergleichbarer Gerichtsentscheidungen zu bewerten, trotz daran geübter Kritik für weiterhin vorzugswürdig.
Taggenaue Schmerzensgeldbemessung wird Fall nicht gerecht
Demgegenüber erachtet der Senat die vom OLG Frankfurt (Urteil vom 18.10.2018, Az. 22 U 97/16 – juris = VersR 2019, 435 = NJW 2019, 442) favorisierte Methode der taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes (vgl. Schwintowski/Schah Sedi, Handbuch Schmerzensgeld, Köln 2013) insbesondere insoweit, als sie dazu dienen soll, einen komplett eigenen Referenzrahmen zur Berechnung zu schaffen, für nicht überzeugend (wie hier: OLG Düsseldorf VersR 2019, 1165, 1165; OLG Celle VersR 2019, 1157, 1164 f.). Dem OLG Frankfurt ist in seiner Kritik an der Oberflächlichkeit mancher Schmerzensgeldbemessung nach dem herkömmlichen System beizupflichten; auch erachtet der Senat das Bestreben nach besserer Vergleichbarkeit für berechtigt. Indessen dürfte die richtige Antwort auf die Kritik eher darin zu sehen sein, die eigene Schmerzensgeldentscheidung sorgfältig zu begründen, insbesondere zu anderen Judikaten abzugrenzen.
Aus Sicht des Senats fehlt den Grundannahmen des Systems der taggenauen Berechnung bereits die innere Berechtigung. Die Grundlage von beispielsweise 7 % des monatlichen Bruttonationaleinkommens zur Berechnung der Tagessätze nach Entlassung aus dem Krankenhaus ist ersichtlich willkürlich gewählt. Es dürfte indessen Aufgabe des Gesetzgebers und nicht der Gerichte sein, derartige nicht aus dem Einzelfall abzuleitende abstrakte Rechengrößen einzuführen, die ihre Berechtigung einzig aus dem Wunsch nach allgemeiner Gleichbehandlung gewinnen. Auch wenn das herkömmliche System ungenau und fehleranfällig sein mag, findet eine nach der herkömmlichen Methode gewonnene Bewertung ihre innere Rechtfertigung darin, dass der Betrag im Vergleich zu anderen Entscheidungen in der Vergangenheit angemessen erscheint. Dies lässt sich für das abweichende System der taggenauen Bewertung nicht anführen.
Hinzu kommt, dass mit der Anwendung der Sätze nach Schwintowski/Schah Sedi eine ganz erhebliche Erhöhung der Schmerzensgelder bei Dauerschäden einherginge (vgl. die Beispiele bei Lüttringhaus/Korch VersR 2010, 973, 976 f.: z. B. 4.356.000 € für 35-Jährige mit Querschnittslähmung). Für einen solchen Paradigmenwechsel sieht der Senat weder Anlass noch Berechtigung.
Schließlich erweist sich das System der taggenauen Berechnung auch keineswegs als konsistent und widerspruchsfrei.
Davon ausgehend hält der Senat den vom Landgericht zuerkannten Betrag im Ergebnis für angemessen. Die Kritik der Beklagten, dass das Landgericht insoweit mit dem zuerkannten Betrag, das System verlassen habe, trifft nach Ansicht des Senats nicht zu.
Das Landgericht hat einen Kapitalbetrag von 800.000 € zuerkannt und von der Möglichkeit, eine monatliche Rente zuzusprechen, keinen Gebrauch gemacht. Dieser Umstand bindet den Senat für den Berufungsrechtszug insoweit, als der Senat gehindert ist, einen Teil des Schmerzensgeldes als monatliche Rente auszuurteilen, obgleich er dies in Fällen wie dem vorliegenden für vorzugswürdig erachtet.
Entscheidung vergleichbar mit früheren Urteilen
Gleichwohl sieht sich der Senat bei der Heranziehung von Referenzentscheidungen nicht gehindert, insoweit auch auf Entscheidungen abzustellen, bei denen ein Teil des Schmerzensgeldes als monatliche Rente ausgeurteilt worden ist.
Bei Berücksichtigung auch solcher Entscheidungen zeigt sich indessen, dass der vom Landgericht zuerkannte Betrag keineswegs völlig außerhalb des Systems bisher zuerkannter Beträge liegt. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des OLG München vom 18. März 2015 (20 U 3360/14 – juris – vgl. HSB 02/2016) zu verweisen. Letzteres hat bei Annahme einer 25 % Mithaftung des Geschädigten einem 16-Jährigen im Falle einer Querschnittslähmung einen Kapitalbetrag von indexiert gerundet 400.000 € und eine monatliche Rente von (nicht indexiert) 500 € zugesprochen. Bei Hochrechnung der monatlichen Rente auf die statistische Lebenserwartung eines in Deutschland geborenen Jungen (und bei „Herausrechnung“ eines Mitverschuldens) wird in der Summe auch unter Berücksichtigung einer Abzinsung ebenfalls ein Betrag in jener Dimension, wie sie das Landgericht Aurich zuerkannt hat, mit einem Gesamtkapitalbetrag von umgerechnet 740.000 € erreicht.
Auch die Entscheidung des OLG Koblenz vom 29.11.1995, Az. 12 W 461/95 (Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge, 38. Aufl. [2020] Nr. 38.2021), die im Falle einer hohen Querschnittslähmung für eine sechsjährige Geschädigte einen Kapitalbetrag von indexiert knapp 500.000 € bei monatlicher Rente von 375 € für angemessen erachtet hat, belegt, dass das Landgericht mit dem zuerkannten Betrag nicht das System vergleichbarer Entscheidungen verlassen hat.
Zukünftiges Leid des Klägers rechtfertigt Höhe des Schmerzensgeldes
Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang weiterhin auf die Entscheidung des 5. Senats des OLG Köln vom 5. Dezember 2018 (5 U 24/18) verweist, wonach bei Schwerstschädigungen ein Kapitalbetrag von 500.000 € die Obergrenze bilde, betrifft die Entscheidung nur jene Fälle, in denen wegen Zerstörung der Persönlichkeit (oftmals wegen perinataler Hirnschädigung) ein Schmerzensgeld zu zahlen ist. Der Senat lässt vorliegend dahingestellt, ob jener Judikatur, die für den Verlust der Persönlichkeit Schmerzensgelder zwischen 350.000 € und 600.000 € zuerkennt (so z. B. OLG Köln, Urteil vom 10.12.2014 – 5 U 75/14), weiterhin zu folgen ist. Die vorliegende Konstellation, in welcher der Kläger keinerlei Hirnschaden erlitten hat, bis zur Schädigung gesund gelebt hat und damit sich Zeit seines Lebens der verletzungsbedingten Einschränkungen bewusst sein wird, unterscheidet sich derart grundlegend von dem zitierten Sonderfall der Zerstörung der Persönlichkeit, dass jene Judikate in keiner Hinsicht als Referenzentscheidungen für Fälle der vorliegenden Art taugen. Während in den Fällen der Zerstörung der Persönlichkeit im Wesentlichen ein in der Vergangenheit liegender Umstand kompensiert werden soll und die Bemessung insoweit weitestgehend gleichsam statisch ereignisbezogen ist, ist der vorliegende Fall maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger nicht nur bereits in der Vergangenheit liegendes erhebliches Leid hat erdulden müssen, sondern auch zukünftig bis an sein Lebensende ganz erhebliche Belastungen, Schmerzen und Einschränkungen im dauerhaften Bewusstsein des Verlustes wird ertragen muss. Dieser Umstand ist bereits nach der herkömmlichen Schmerzensgeldbemessung ein gewichtiger Bewertungsfaktor (vgl. nur OLG Düsseldorf VersR 2019, 1165, 1166).
Das Landgericht hat mit dem Betrag von 800.000 € auch ein dem Einzelschicksal des Klägers angemessenes Schmerzensgeld zuerkannt. Bei der Bemessung der Höhe eines dem Verletzten zustehenden Schmerzensgeldes sind die Schwere der erlittenen Verletzungen, das hierdurch bedingte Leiden, dessen Dauer, die subjektive Wahrnehmung der Beeinträchtigungen für den Verletzten und das Ausmaß des Verschuldens des Schädigers maßgeblich.
Besondere Bedeutung kommt bei einem Dauerschaden dem Lebensalter des Verletzten zu, da dies maßgeblich dafür ist, wie lange sich die erlittene Beeinträchtigung auf das Leben des Geschädigten auswirkt.
Bei der Bemessung sind im konkreten Fall die nachfolgenden Faktoren zu berücksichtigen:
Geschädigter ist auf Rollstuhl angewiesen
Der Kläger ist nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft und Handwerkskunst für die Fortbewegung dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Das Gutachten, das der Senat eingeholt hat, hat die Behauptung des Klägers bestätigt, dass wegen der Beschaffenheit der Stümpfe die Anfertigung von Unterschenkelprothesen nicht möglich ist.
Die körperliche Fortbewegung ist dem Kläger gegenwärtig im Haus ohne Rollstuhl auf sog. „Stubbis“ (eine Art Silikonkurzprothese) möglich, die er sich über die Stümpfe zieht; im Übrigen ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Der Kläger kann allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt (anders z. B. als Geschädigte mit einer hohen Querschnittslähmung) seine oberen Extremitäten einsetzen, was für die Eigenständigkeit im täglichen Leben einen großen Unterschied macht. Zurzeit kann sich der Kläger deswegen auf den Kurzprothesen unter Zuhilfenahme seiner Arme auch ohne Rollstuhl fortbewegen; er kann eigenständig den Rollstuhl oder eine Liege besteigen. Allerdings ist die weitere Entwicklung insoweit ungewiss. Wegen des Narbengewebes an den Armen ist noch nicht sicher zu beurteilen, wie seine oberen Extremitäten das Körperwachstum überstehen. Es ist nicht sicher auszuschließen, dass die Beweglichkeit der oberen Extremitäten sich insoweit verschlechtert.
Entstellung des Körpers und Gesichts durch Narben
Große Teile der Körperoberfläche des Klägers sind durch Narben entstellt, weil das nekrotische Gewebe entnommen werden musste. Dies hat eine dauerhafte körperliche Beeinträchtigung auch der oberen Extremitäten zur Folge.
Der Bewegungsbefund der einzelnen Gelenke der oberen Extremität ist limitiert. Die rechte Seite ist von der Schulter bis zur Mittelhand und zu den Fingern 4 und 5 stark vernarbt, linksseitig zeigen sich am Oberarm einzelne Narbenplatten, am Unterarm und auf den Handrücken sind ausgedehnte Narbenflächen vorhanden. Die Kraft und die Dauerleistungsfähigkeit der Greifkraft ist eingeschränkt (Rechtskraftgrad 3-4, links 4), das Anheben des rechten Arms in der Schulter ist aktiv nur bis 80° möglich, Ellenbogen und Handgelenke sind in der Bewegung mittelgradig eingeschränkt, links ist der Faustgriff möglich, rechts nur der Schlüsselgriff bzw. Lateralgriff.
Infolge der zuletzt genannten Beeinträchtigung kann der Kläger in der Schule nicht eigenständig mitschreiben; dies tut sein Integrationshelfer; allenfalls mit einem Tablet/Laptop kann der Kläger selbst schreiben.
Infolge der hochgradigen Zerstörung der Talg- und Schweißdrüsen sowie der daher fehlenden autonomen Regulation der Haut, ist der Kläger zudem lebenslang gehalten, sich mehrmals täglich einzucremen; es besteht die lebenslange Gefahr von Entzündungen der Narbenoberfläche.
Der Kläger leidet täglich unter Phantomschmerzen an den Stümpfen; er erhält deshalb täglich Ibuprofen Junior 200 g, jeweils zwei bis drei Tabletten ein- bis zweimal am Tag. Auf andere Schmerzmittel muss der Kläger weitgehend verzichten, weil er im Zuge einer Revisionsoperation eine lebensbedrohliche Metamizol-induzierte Agranulozytose erlitten hat.
Der Körper des Klägers ist zudem durch die großflächigen Narben ästhetisch beeinträchtigt; auch das Gesicht ist an beiden Wangen erheblich betroffen; der Kläger wird auch im bekleideten Zustand Zeit seines Lebens durch die Narben gezeichnet sein.
Bis zur Verhandlung folgten 16 weitere Operationen
Zu den genannten Dauerschäden treten die erheblichen Beeinträchtigungen hinzu, die der Kläger in der Vergangenheit bereits zu erdulden hatte bzw. noch zu erdulden haben wird.
Unmittelbar nach der Infektion ist der Kläger über die Dauer von zwei Monaten wiederholt operiert worden: Bei Aufnahme zeigten sich multiple Hautnekrosen an Wangen und Ohren beidseits, weiterhin an Ober- und Unterarmen, beiden Händen sowie Ober- und Unterschenkeln beidseits. Die Nekrosen wurden durch Abtragung und Epigard-Deckung versorgt. An beiden Füßen und Unterschenkeln zeigen sich ausgeprägte Nekrosen von Haut und Muskeln, sodass beidseits unterhalb des Knies amputiert werden musste. Es erfolgten zeitversetzt mehrfach Muskellappen- und Spalthauttransplantationen im Gesicht, an den Armen sowie an den Oberschenkeln mit Entnahme der Spalthaut von Thorax und Rücken. In einem weiteren operativen Eingriff musste aufgrund des ausgedehnten Haut- und Weichteildefektes und aufgrund des ausgedehnten Befalls mit Pseudomonas die rechte Patella entfernt werden. Es schloss sich eine Folgeoperation zur Deckung des rechten Knies mit Spalthaut von der Innenseite des linken Oberarmes an.
Da der Kläger bislang nicht ausgewachsen ist, haben sich seitdem bis zur Verhandlung vor dem Senat 16 weitere Operationen zur Korrektur der Stümpfe angeschlossen. Dabei handelt es sich durchgehend um schwerwiegende Eingriffe unter Vollnarkose, die erheblicher postoperativer Schmerzmittelgabe bedurft haben. Erschwerend ist beim Kläger als Folge der Exostosenabtragung 2019 eine metamizolinduzierte Agranulozytose aufgetreten, also eine toxische Schädigung des Rückenmarks als Nebenwirkung der Gabe des Schmerzmittels Metamizol. Der Kläger musste deswegen auf der Intensivstation der Kinderklinik behandelt werden. Hinsichtlich der Wahl zukünftiger Schmerzmittel ist er erheblich eingeschränkt.
Kläger wird sich noch weiteren Operationen unterziehen müssen
Die nächste Stumpfkorrektur ist 2020 vorgesehen. Wievielen weiteren Operationen sich der Kläger bis zum Abschluss des Wachstums ausgesetzt sehen wird, ist nicht prognostizierbar.
Zu den Stumpfkorrekturen kommen jene Operationen hinzu, denen sich der Kläger unterziehen muss, weil das Narbengewebe nicht in gleicher Weise mitwächst, wie die unbeschädigte Haut. Hier hat sich der Kläger bislang sieben Korrekturoperationen unterziehen müssen. Die Operationen erfolgen unter Vollnarkose; der Kläger muss sich jeweils zwei bis fünf Tage im Krankenhaus aufhalten. Die Anzahl der noch erforderlichen Hautkorrekturoperationen ist schwer zu prognostizieren; die Behandler des Klägers gehen von zukünftig noch 20 bis 50 weiteren Eingriffen aus. Komplikationen sind insoweit zu erwarten als die Behandler davon ausgehen, dass noch sieben Lappenplastiken durchzuführen sein werden, der Kläger aber nur noch über vier geeignete Hautareale verfügt. Hinzu kommt das Risiko, dass das Transplantat nicht einwächst.
Schließlich hat der Kläger in den Jahren 2011 bis 2014 täglich für die Dauer von 22,5 Stunden einen Ganzkörperkompressionsanzug tragen müssen, der sämtliches Narbengewebe, also insbesondere auch das Gesicht, bedeckt hat. Die Kompression des Anzugs war so erheblich, dass der Kläger wegen des Drucks während des Tragens kaum verständlich sprechen und nur mit Einschränkungen essen konnte. Ausziehen durfte der Kläger den Anzug in dieser Zeit nur dreimal täglich jeweils für eine halbe Stunde, weil in dieser Zeit die Narben einzucremen waren. Der Kläger hat in diesem Anzug auch die Schule besuchen müssen.
Geschädigter leidet unter schweren Traumafolgen
Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen leidet der Kläger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung; mangelndes Selbstbewusstsein, motorische Unruhe, eine deutlich reduzierte Ausdauerspanne und eine deutlich reduzierte Frustrationstoleranz sind Traumafolgen. Für die Zukunft, insbesondere die Pubertät, die mit einem gesteigerten Körperbewusstsein einhergeht, ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen mit einer Steigerung des psychologischen Krankheitsverlaufs zu rechnen. Die Mutter hat den derzeitigen Gemütszustand des Klägers wie folgt beschrieben: Er besuche mit einem Integrationshelfer die Gesamtschule; die schulischen Leistungen könne der Kläger trotz erheblicher Fehltage erbringen; im Sozialverhalten habe er wenig Selbstvertrauen; mit seinem Integrationshelfer habe der Kläger erst nach Monaten die ersten Worte gewechselt. Als seine Psychotherapeutin im späteren Verlauf der Psychotherapie die Amputationen angesprochen habe, habe er wortlos das Zimmer verlassen und bis heute jede weitere Psychotherapie verweigert. Man bemühe sich zurzeit, dies wieder anzugehen.
Fünf Teilbereiche der Beeinträchtigung
Die genannten Einschränkungen und Leiden, die der Kläger bislang zu erdulden hatte und denen er zukünftig ausgesetzt sein wird, rechtfertigen ein Schmerzensgeld im oberen Bereich bisher zuerkannter Beträge. Wie umfassend die Beeinträchtigung des Klägers ist, zeigt sich daran, dass von jenen fünf Teilbereichen, mit denen Bensalah/Hassel (NJW 2019, 403, 406) die Beeinträchtigung eines Schmerzensgeldgläubigers zu erfassen suchen, nämlich (1) Fortbewegung/Mobilität, (2) Kommunikation, (3) Psyche und kognitive Fähigkeiten, (4) Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken, (5) Aussehen und Aussicht auf Partnerschaft, kein Bereich gänzlich unbeeinträchtigt ist. Für die Ziffern (1), (3) und (5) ist dies evident. Aber auch in den Bereichen (2) und (4) erlebt der Kläger Einschränkungen. Wegen des Narbengewebes ist die Sensorik der Haut weitestgehend aufgehoben; wegen der Vernarbung seiner Hände und Arme kann der Kläger nur eingeschränkt schriftlich kommunizieren.
Neben dem Ausmaß der Schädigung bildet auch ihr Zeitpunkt einen Grund, das Schmerzensgeld im oberen Bereich des zur Verfügung stehenden Rahmens anzusetzen. Der Kläger hat die Schädigung im Alter von fünf Jahren erlitten. Bei einer Schädigung in diesem Alter hat der Geschädigte gerade die notwendige Reife erlangt, den Verlust in seiner Gesamtheit zu begreifen und unter ihm zu leiden, auf der anderen Seite gleichsam sein gesamtes Leben noch vor sich.
Vergleichsfälle
Im Vergleich zur eingangs zitierten Entscheidung des OLG München, das für den Fall einer Querschnittslähmung eines 16-Jährigen bei 25 %-igem Mitverschulden einen Kapitalbetrag von 400.000 € und eine monatliche Rente von 500 € ausgeurteilt hat, bewertet der Senat das Leid, das der Kläger vorliegend zu erdulden hat, als noch schwerwiegender. Zwar ist ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Restmaß an Mobilität verblieben –so kann er z. B. einem Hobby wie dem Tauchsport (mit Einschränkungen) nachgehen – die sonstigen, weiteren schweren Beeinträchtigungen (Vielzahl schmerzhafter komplexer Operationen in der Vergangenheit und Zukunft, ästhetische und nachhaltige psychische und soziale Beeinträchtigung), die den Kläger im Grunde seiner Kindheit beraubt haben und ihn auch in der Zukunft in vielfältiger Hinsicht weiter schwer beeinträchtigen werden, rechtfertigen indessen, dem Kläger ein im Vergleich dazu höheres Schmerzensgeld zukommen zu lassen.
Auch die Entscheidung des OLG Hamm vom 11.11.2016 zum Az. 26 U 111/15 (Hacks/Wellner/Häcker a.a.O. Nr. 38.2001), mit welcher einer 48-jährigen Geschädigten für den Fall einer hohen Querschnittslähmung ein Betrag von indexiert ca. 420.000 € zugesprochen worden ist, belegt, dass dem Kläger angesichts seiner Jugend ein Schmerzensgeld zuzusprechen ist, das, wenn von einer monatlichen Rente abzusehen ist, als Kapitalbetrag einen deutlichen Abstand zu jenem Betrag haben muss, auf den das OLG Hamm erkannt hat. Auch wenn sich eine schlichte Doppelung angesichts der Individualität der Fälle verbietet, zeigt diese Überlegung aber angesichts des Altersunterschieds der Geschädigten auf, dass das Landgericht mit 800.000 € einen Betrag gewählt hat, der sich angemessen in das System bisher zugesprochener Gelder einfügt und nach Ansicht des Senats einen angemessenen Ausgleich darstellt.
Kumulation an Schädigungen rechtfertigt Höhe des Schmerzensgeldes
Zu dem gleichen Ergebnis gelangt der Senat mit Blick auf die Entscheidung des LG Dortmund vom 21.12.2005 – 21 O 370/04, das einer 20-jährigen Klägerin im Falle der Schädigung durch großflächige Vernarbung bei 60 %-iger Mithaftung einen Betrag von (nicht indexiert) 120.000 € zugesprochen hat. Auch diese Entscheidung belegt, dass das Landgericht mit dem Betrag von 800.000 € einen Betrag zuerkannt hat, der mit Blick auf die Kumulation der Schädigungen (Rollstuhlpflicht und Vernarbungen), die der Kläger erlitten hat, angemessen ist und sich in das System fügt.
Soweit die Berufung sich weiterhin gegen den zuerkannten Zins wendet, kann ihr nicht gefolgt werden. Das Landgericht befindet sich mit seiner Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wonach die Verzinsung gemäß § 291 unabhängig von der mitgeteilten Vorstellung des Klägers nach dem objektiv zuerkannten Betrag erfolgt (BGH, Urteil vom 05.01.1965 – VI ZR 24/64 – Juris Rn.44).