OLG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 5 U 202/08, juris (= VersR 2016, 191)

350.000 EUR Schmerzensgeld

Innerhalb der Kategorie von schweren und schwersten Geburtsschäden gibt es die hinreichend abgrenzbare Konstellation einer extremen („maximalen“) Schädigung, die den typologischen Stellenwert einer eigenständigen Fallgruppe hat. Die tatrichterliche Bemessung des zuerkannten Schmerzensgeldes muss deshalb insbesondere erkennen lassen, dass bei der Gewichtung der Schadensfaktoren ein sorgfältiger Abgleich mit denjenigen konstitutiven Schadensanlagen stattgefunden hat, welche die besondere Fallgruppe einer extremen bzw. „allerschwersten“ Schädigung in der Regel kennzeichnen.

Fall:

Die Klägerin machte gegen den Beklagten, einen niedergelassenen Frauenarzt und Belegarzt, Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung im Zusammenhang mit ihrer Geburt in einem Krankenhaus geltend.

Klage wegen fehlerhafter Behandlung bei der Geburt

Das von drei Sachverständigen (einem Gynäkologen, einer Neonatologin sowie einer Neuropädiaterin) beratene Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 400.000 EUR samt Prozesszinsen verurteilt sowie die Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz des materiellen Zukunftsschadens der Klägerin festgestellt. Das OLG hat die Berufung mit der Maßgabe einer Herabsetzung des Schmerzensgeldes auf 350.000 EUR samt Prozesszinsen zurückgewiesen.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG hat sich – ebenso wie das LG – aufgrund der Sachverständigengutachten die Überzeugung gebildet, dass die schwere hirnorganische Schädigung des Feten aufgrund einer massiven Sauerstoffunterversorgung eingetreten war, weil der Geburtshelfer grob pflichtwidrig auf alarmierende und in der Schlussphase durchgehend hochpathologische Befunde der CTG-Aufzeichnungen bis zur Entbindung nicht bzw. nicht angemessen (insbesondere nicht durch eine rechtzeitige Not-Sectio) reagiert hatte.

OLG Bamberg unterschied zwischen schweren und schwersten Geburtsschäden

Dagegen hatte die Berufung einen Teilerfolg, soweit sie eine Ermäßigung des ausgeurteilten Schmerzensgeldes anstrebte. Dabei hat das OLG eine umfassende Abgrenzung zwischen schweren und schwersten Geburtsschäden vorgenommen und mit vielen Beispielen aufgezeigt, dass es durchaus graduelle Unterschiede geben kann:

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in einem solchen Fall entspricht es nicht den methodischen Anforderungen an die gebotene Gesamtschau, wenn sich die tragende Begründung des Tatrichters in der Aussage erschöpft, dass eine „schwerste Behinderung“ vorliege und demzufolge eine „Zerstörung der Persönlichkeit“ gegeben sei. Denn innerhalb der Kategorie von schweren und schwersten Geburtsschäden gibt es die hinreichend abgrenzbare Konstellation einer extremen („maximalen“) Schädigung, die den typologischen Stellenwert einer eigenständigen Fallgruppe hat.

Die tatrichterliche Bemessung des zuerkannten Schmerzensgeldes muss deshalb insbesondere erkennen lassen, dass bei der Gewichtung der Schadensfaktoren ein sorgfältiger Abgleich mit denjenigen konstitutiven Schadensanlagen stattgefunden hat, welche die besondere Fallgruppe einer extremen bzw. „allerschwersten“ Schädigung in der Regel kennzeichnen. Weist die Situation des geschädigten Kindes signifikante Unterschiede zur typischen Sachverhaltsgestaltung eines extremen Schadensfalls auf, so hat sich dieser Umstand grundsätzlich auch in einer entsprechenden – deutlichen – Ermäßigung des immateriellen Ausgleichs gegenüber den in der einschlägigen Judikatur der Oberlandesgerichte zugebilligten Schmerzensgeldbeträgen in einer Größenordnung von 500.000 EUR (und darüber) niederzuschlagen.

Klägerin erstritt 350.000 € Schmerzensgeld

Von einer (im Einzelnen aufgezeigten) extremen Fallgestaltung unterschied sich die Situation der Klägerin nach den Feststellungen des OLG grundlegend. Nach zwei Vorkommnissen in der Neugeborenenphase waren jegliche Krampfanfälle ausgeblieben. Wahrnehmungsfähigkeit und Kommunikationsmöglichkeiten waren nicht ausgeschlossen, sondern eingeschränkt vorhanden. Die Klägerin musste mit dem Löffel gefüttert werden, sie konnte weiche Sachen essen und kleine Stücke abbeißen. Sie konnte allerdings nicht selbst das Essen greifen und zum Mund führen.

Nach den Angaben der Mutter besuchte die Klägerin einen heilpädagogischen Kindergarten der Lebenshilfe, in dem sie gut integriert sei. Zusätzlich gingen die Eltern mit ihr schwimmen und sie nehme am therapeutischen Reiten teil. Sie habe hierbei „viel Spaß“ und sei „insgesamt ein sehr zufriedenes Kind“. In einer einmal im Jahr für mehrere Wochen besuchten Rehabilitationseinrichtung nutze sie auch ein Bewegungsgerät zur Einübung in Schrittfolgen. Die Klägerin lautiere ein bisschen, spreche nicht, aber höre gut. Sie könne ihre Emotionen sehr gut zeigen; Wut und Freude, Tränen könne sie in adäquaten Situationen einbringen. „Insgesamt habe man den Eindruck, dass sie deutlich mehr versteht als sie durch ihr Lautieren äußern kann.“

Aufgrund der dargelegten Umstände und auch unter Berücksichtigung der schwerwiegenden Pflichtverletzung, die das schadensauslösende Geburtsmanagement des Beklagten kennzeichnete, erschien daher bei Gesamtbetrachtung der beurteilungserheblichen Gegebenheiten des Streitfalls als angemessener Ausgleich für die erlittenen und bislang absehbaren immateriellen Schäden der Klägerin nach Auffassung des OLG ein Schmerzensgeld in Höhe von 350.000 EUR erforderlich, aber auch ausreichend.

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