KG Berlin, Urteil vom 16. Februar 2012 – 20 U 157/10 – VersR 2012, 766

650.000 € Schmerzensgeld

Bei der Schmerzensgeldbemessung sind – noch – vorhandene emotionale Fähigkeiten zu berücksichtigen, auch eine etwaige Erinnerung an den früheren Zustand einer Geschädigten. Das Alter der Geschädigten im Zeitpunkt des Schadensereignisses und die Möglichkeit, dass eine – wenn auch rudimentäre – Erinnerung besteht, rechtfertigen ein Schmerzensgeld von 650.000 €.

Fall:

Die damals ca. viereinhalbjährige Klägerin brach sich bei einem Sturz den linken Arm. Bei der noch am selben Tage erfolgten Operation der sehr erregten und verängstigten Klägerin zur Reposition und eventuellen Fixation des Bruchs kam es nach der Narkotisierung mittels Maske bei der Klägerin zu einem Zwischenfall.

Zu 100 % schwerbeschädigt, Pflegestufe III

Die Klägerin (zu 100 % schwerbeschädigt, Pflegestufe III) leidet seither aufgrund eines schweren Hirnschadens an einem apallischen Syndrom mit erheblichen Ausfallerscheinungen der Großhirnfunktion und einer Tetraspastik (Spastik an allen vier Gliedmaßen). Sie wird über eine PEG-Sonde ernährt und ist auf ständige Pflege angewiesen.

Rechtliche Beurteilung:

Das Berufungsgericht hielt eine (außergewöhnliche) Gesamthöhe des Schmerzensgelds von rd. 650.000 € in Anbetracht der hier besonders tragischen Folgen für angemessen. Anhaltspunkte zur Ermittlung der Größenordnung vermittelte etwa die Entscheidung des OLG Zweibrücken (Urteil vom 22.4.2008 – 5 U 6/07); der dortige Kläger erlitt aufgrund grober ärztlicher Behandlungsfehler ähnlich schwere Hirnschäden bei seiner Geburt wie die Klägerin; ihm wurden erstinstanzlich ein Schmerzensgeld von 500.000 € und eine Schmerzensgeldrente von 500 € zugesprochen, was das OLG Zweibrücken unter Hinweis auf vergleichbare Entscheidungen als „zwar hoch, keinesfalls aber derart, dass eine Korrektur angezeigt wäre“ ansah. Im Streitfall hatte das Landgericht bei der (niedrigeren) Schmerzensgeldbemessung die noch vorhandenen emotionalen Fähigkeiten der Klägerin nicht berücksichtigt. Das Landgericht war vielmehr davon ausgegangen, dass „sich das Leben der Klägerin weitgehend auf die Aufrechterhaltung vitaler Funktionen beschränkt.“ Die Klägerin ist jedoch durchaus in der Lage, grundlegende Emotionen wie Freude, Unwohlsein, Angst zu empfinden und zu äußern; sie erkennt auch nahestehende Bezugspersonen und reagiert auf diese. Es konnte daher auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin, die im Zeitpunkt der schicksalhaften Operation bereits viereinhalb Jahre alt war, eine Erinnerung an ihren früheren Zustand hat und ihr daher die Beschränktheit und Ausweglosigkeit der jetzigen Situation in gewisser Weise bewusst ist.