KG Berlin, Urteil vom 11. Dezember 2017 – 20 U 19/14, juris

500.000 EUR Schmerzensgeld

Wird durch eine nachgeburtliche grob fehlerhafte Behandlung eine Schwerstschädigung eines Säuglings verursacht, kann ein Schmerzensgeld von 500.000 € gerechtfertigt sein, wobei auch berücksichtigt werden kann, dass der Geschädigten durch die mit ihr lebende (gesunde) Zwillingsschwester tagtäglich ihre Einschränkungen im Vergleich zu dieser vor Augen geführt werden.

Fall:

Die Mutter der Klägerin entband nach Komplikationen in der Schwangerschaft im X Klinikum per Kaiserschnitt am 19.6.2001 nach 30 + 2 Schwangerschaftswochen Zwillinge – die Klägerin und ihre Schwester. Im Gegensatz zu der gesunden Schwester wurden bei der Klägerin neben Extremitätenfehlstellungen (Klumpfuß rechts, Hakenfuß links) eine respiratorische Adaptionsstörung, initiale Hypoglykämie und bronchopulmonale Dysplasie sowie gering ausgeprägte Kontrakturen am rechten Arm diagnostiziert.

In der Folgezeit befand sich die Klägerin wegen einer rezidivierenden obstruktiven Bronchitis in laufender ärztlicher Behandlung. Ende Januar 2002 traten bei der Klägerin hohes Fieber und eine Verschlechterung der Atemsituation auf; der Zustand der Klägerin verschlechterte sich so sehr, dass sie schließlich am Nachmittag des 29.01.2002 auf Überweisung einer Fachärztin für Kinderheilkunde, die zuvor ohne Erfolg eine Inhalation mit dem Medikament Salbutamol (Sultanol) durchgeführt hatte (was sie auf dem Überweisungsschein vermerkt hatte), in der Einrichtung der Beklagten aufgenommen wurde (Aufnahmediagnose: „Akute Bronchitis durch Mykoplasma pneumoniae“).

Während des Aufenthalts in der Einrichtung der Beklagten und der dortigen, sich sehr schwierig gestaltenden Behandlung – u.a. mit einer Inhalation mit Sultanol – kam es zu Komplikationen (Herz-Kreislauf-Stillstand während der Inhalation, Krampfanfälle, Hirnödem). Es kam auch zu Darmblutungen, die nach Verlegung am 05.02.2002 auf eine Kinderintensivstation erfolgreich gestillt und therapiert werden konnten. Am 26.03.2002 wurde die Klägerin nach Hause entlassen.

Mehrfache Schwerstbehinderungen wegen Sauerstoffunterversorgung

Die Klägerin ist seitdem mehrfach schwerstbehindert (u. a. schwerer Hirnschaden, cerebrale und fieberinduzierte Krampfanfälle, schwere Sehbehinderung, schwere Tetraspastik mit entsprechenden orthopädischen Folgen und Störungen bei der Nahrungsaufnahme, Inkontinenz, hochgradige Sprachbehinderung). Sie kann nur in einem Schrägbett bei etwa 30 Grad liegen und nur in einem Rollstuhl mit speziell gefertigter Sitzschale fortbewegt werden.

Sie muss regelmäßig gewickelt, gewindelt und umgelagert werden und bedarf einer ständigen Fütterung und Überwachung zur Nahrungsaufnahme. Die Klägerin hat einen Grad der Behinderung von 100 % und die Merkzeichen „H“ (hilflose Person), „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung), „B“ (auf ständige Begleitung angewiesen) und „T“ (Telebus berechtigt). Seit 2008 besucht die Klägerin von montags bis freitags von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr eine Schule für Sehbehinderte, ein Schulhelfer übernimmt dort die erforderlichen Pflegeleistungen (Füttern, Lagern, Ausziehen, Wickeln etc.).

Die Klägerin macht geltend, die in der Einrichtung der Beklagten in der Zeit vom 29.01. bis 05.02.2002 durchgeführte Behandlung sei in verschiedener Hinsicht fehlerhaft erfolgt.

Aufgrund dieser Behandlungs- und Befunderhebungsfehler sei es zu einem unzureichend behandelten Herz-Kreislauf-Stillstand und einem damit verbundenen hypoxisch-ischämischen Geschehen (Sauerstoffunterversorgung) gekommen. Ihr jetziger Zustand sei auf das hypoxisch-ischämische Geschehen im Zusammenhang mit dem Herz-Kreislaufstillstand am 29.01.2002 zurückzuführen. Bei standardgerechter Behandlung wären die Gesundheitsschäden ganz oder teilweise vermieden worden oder wären jedenfalls weniger schwer ausgefallen. Die bei der Geburt vorhandenen Kontrakturen hätten erfolgreich behandelt werden können, die durch die Frühgeburt aufgetretenen pulmonalen Beschwerden hätten sich im Kindesalter gegeben.

Rechtliche Beurteilung:

Die Berufung der Beklagten, mit der sich diese gegen eine Haftung dem Grunde nach und gegen die Höhe des vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldes wendet, war nach Auffassung des OLG unbegründet.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war die Klägerin im Hause der Beklagten fehlerhaft versorgt worden (Befunderhebungsfehler), weil es unterlassen wurde, bereits bei Aufnahme der Klägerin in die Einrichtung der Beklagten eine akute Zustandsdiagnostik mittels Blutgasanalyse, Monitoring von Herzfrequenz und Atmung oder zumindest durch Messung der Sauerstoffsättigung in die Wege zu leiten. Dies wurde als grober Behandlungsfehler gewertet, der zu einer Umkehr der Beweislast zugunsten der Klägerin hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers und ihren schwerwiegenden Gesundheitsschäden führte.

Die Verjährungseinrede der Beklagten hatte keinen Erfolg. Auch bei negativem Ausgang ärztlicher Bemühungen muss sich einem Patienten nicht der Gedanke eines behandlungsfehlerhaften Verhaltens aufdrängen. Dies gilt auch dann, wenn sich der Patient aufgrund des für ihn negativen medizinischen Ergebnisses veranlasst sieht, die Frage nach einem ärztlichen Behandlungsfehler aufzuwerfen und klären zu lassen. Den zwingenden Schluss auf eine den Verjährungsbeginn nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB auslösende Kenntnis des Patienten von einem Behandlungsfehler lässt ein Schreiben seines Prozessbevollmächtigten, in dem dieser um Überprüfung des Vorfalls und Prüfung der weiteren Vorgehensweise sowie um Übersendung der Behandlungsunterlagen bittet, nicht zu.

500.000 € Schmerzensgeld wegen schweren Schädigungen, während Zwillingsschwester gesundes Leben führt

Der Klägerin stand auch nach Meinung des OLG wegen der schweren Schädigung ein Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe der vom Landgericht ausgeurteilten 500.000 € zu. Die Beklagte hatte hiergegen in der Berufungsinstanz keine substantiellen Einwendungen vorgetragen, die eine Herabsetzung des Betrages gebieten konnten. Die Beklagte äußerte lediglich die Auffassung, es käme auch unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von etwa 300.000 € in Betracht.

Die Begründung der Beklagten, die Klägerin habe keine Erinnerung an ihr Leben vor den streitgegenständlichen Geschehnissen (und somit – das will die Beklagte wohl damit zum Ausdruck bringen – nicht das Empfinden eines einschneidenden Bruchs in der Vita) hat das OLG nicht als stichhaltig erachtet, da der Klägerin vielmehr durch die mit ihr lebende (gesunde) Zwillingsschwester tagtäglich ihre Einschränkungen im Vergleich zu dieser vor Augen geführt werden. Diesen Gesichtspunkt hat das Landgericht auch zu Recht bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes berücksichtigt.

Unentgeltliche Pflegeleistungen durch Familienangehörige sind bei der Berechnung des Schadensersatzanspruchs für verletzungsbedingte Pflege- und Betreuungsleistungen in marktgerechter Weise zu berücksichtigen. Bei mehreren in Betracht kommenden, mit unterschiedlichem Kostenaufwand verbundenen Möglichkeiten zum Ausgleich der Pflegebedürftigkeit bemisst sich die Höhe des Anspruchs hinsichtlich des Mehraufwands nicht stets nach der aufwendigsten Möglichkeit, sondern danach, welcher Bedarf in der vom Geschädigten gewählten Lebensgestaltung tatsächlich entsteht. Ungeachtet der Qualifikation der pflegenden Angehörigen ist der Nettolohn einer qualifizierten Pflegekraft insofern marktangemessen.