OLG Hamm, Urteil vom 11. November 2016 – 26 U 111/15, juris (= ArztR 2017, 157)

400.000 EUR Schmerzensgeld

Eine im Verlauf einer ärztlichen Heilbehandlung erlittene Querschnittslähmung unterhalb des dritten Halswirbels mit der Folge, dass dem Geschädigten keine Willkürbewegungen der Arme und Beine mehr möglich sind und dass das sensible Empfinden im Bereich des Stammes und der Extremitäten einschließlich des sexuellen Empfindens fehlt und aufgrund einer Zwerchfellbeeinträchtigung eine eigenständige dauerhafte Atmung nicht mehr möglich ist, was eine Langzeitbeatmung zur Folge hat und zur Beeinträchtigung des Sprechvermögens führt, rechtfertigt eine Zahlung von 400.000 € Schmerzensgeld.

Fall:

Die Klägerin nahm die Beklagte wegen einer im Verlauf einer ärztlichen Heilbehandlung erlittenen Querschnittslähmung unterhalb des dritten Halswirbels auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht für weitere materielle Schäden in Anspruch.

In Behandlung wegen Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule

Die 1960 geborene Klägerin litt als Krankenschwester über Jahre hinweg an Rückenschmerzen, vorwiegend im Bereich der Lendenwirbelsäule. Im November 2008 begab sie sich in die Behandlung des Orthopäden C, der eine radiologische Untersuchung der Lendenwirbelsäule veranlasste.

In der Zeit vom 15.12. bis 20.12.2008 begab sich die Klägerin in die stationäre Behandlung der Beklagten. Diese diagnostizierte nach entsprechender radiologischer Untersuchung bei der Klägerin ein radikulär pseudoradikuläres zervikales Schmerzsyndrom bei Osteochondrosen und Spondylarthrosen C4 bis 7 und Instabilität C3/4 mit konsekutiver Spinalkanalstenose, ein radikulär pseudoradikuläres lumbales Schmerzsyndrom bei produktiven Osteochondrosen und Spondylarthrosen L4 bis S1, eine ACG-Arthrose links sowie den Verdacht auf ein Thoracic-Outlet-Syndrom rechts. Am 06.01.2009 wurde extern ein MRT der HWS gefertigt. Ohne Bezugnahme auf dieses MRT empfahl die Beklagte in ihrem Bericht vom 30.01.2009 die ventrale Dekompression und Fusion der Halswirbel C4 bis 7 sowie die Implantation einer Bandscheibenprothese C 3/4. Der die Klägerin behandelnde Orthopäde C, dem der MRT-Befund vorlag, riet der Klägerin ebenfalls zu einer operativen Behandlung durch den chirurgischen Chefarzt Dr. N.

Am 12.02.2009 führte die Klägerin ein präoperatives Gespräch zum Ablauf des geplanten Eingriffs mit dem Oberarzt der chirurgischen Abteilung, Dr. E. Am 10.03.2009 wurde die Klägerin stationär im Hause der Beklagten zur Durchführung der geplanten Implantation einer Bandscheibenprothese Typ 6 HWK 3/4 und einer Fusion HWK 4-7 mit Cage und Venture Verplattung aufgenommen. Die Ärzte Dr. N2 und Dr. L klärten die Klägerin am 10.03.2009 auf.

Der operative Eingriff wurde am 11.03.2009 durchgeführt. Es erfolgte die Implantation einer Bandscheibenprothese C3/4 sowie eine ventrale Fusion C4-7 mit Cage und Verplattung. Die Operation wurde von Dr. L geleitet, der Chefarzt Dr. N war während des Eingriffs zeitweise anwesend.

Im Anschluss an die Operation wurde die Klägerin auf die Intensivstation verlegt. Gegen 20:15 Uhr wurde eine zunehmende Schwäche aller vier Extremitäten festgestellt. Die Klägerin konnte nur noch den rechten Arm und die Zehen bewegen. Insbesondere hatte sie kein Empfindungsvermögen mehr.

Mehrere Revisionsoperationen durchgeführt

Mit der Diagnose einer postoperativen Nachblutung und Myelonkompression erfolgte am 11.03.2009 um 23:05 Uhr eine Revisionsoperation der Klägerin durch Dr. N. Während der Operation wurden die ventrale Platte und der Cage entfernt. Es erfolgten eine Blutstillung von ventral und eine Dekompression des Myelons.

Am 12.03.2009 nahm Dr. N um 14:15 Uhr eine erneute Revisionsoperation vor, nachdem weitere klinische Kontrollen und CT-Untersuchungen eine erneute Kompression des Myelons ergeben hatten. Es erfolgten eine dorsale Dekompression mit Laminektomie und eine dorsale Instrumentation.

Am 16.03.2009 wurde die Klägerin zur weiteren Behandlung in das Querschnittszentrum des berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums C verlegt. Die Klägerin leidet seit der Operation vom 11.03.2009 unter einer kompletten Querschnittslähmung sub. C3. Das Landgericht hat der Klage gestützt auf ein fachorthopädisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. U stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 400.000 € verurteilt.

Rechtliche Beurteilung:

Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Der Sachverständige ist dabei verblieben, dass eine unvollständige Befunderhebung stattgefunden hat sowie, dass die Operation weder dem Grunde noch der Form nach indiziert war. Es bestand bei der Klägerin im Dezember 2008 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme allenfalls eine relative OP-Indikation. Bei zervikalen Bandscheibenvorfällen müssen operative Maßnahmen individuell abgewogen werden, da in vielen Fällen eine konservative Behandlung gleichfalls erfolgversprechend ist. Nachdem das vom Sachverständigen geforderte Gespräch über die Möglichkeit des Zuwartens und Weiterführens der konservativen Behandlung nicht stattgefunden hat, ergab sich hieraus der Vorwurf unzureichender Aufklärung über Behandlungsalternativen.

Ein gesonderter grober Behandlungsfehler ist weiterhin darin zu sehen, dass vor der Operation vom 11.03.2009 eine weitere präoperative Befunderhebung unterlassen worden ist. Es war ausweislich der Unterlagen der Beklagten zwischenzeitlich ein neuer neurologischer Befund bei der Klägerin aufgetreten mit Sensibilitätsstörungen im rechten Unterarm und der rechten Hand und einer Kraftgradminderung bzgl. des Trizeps und des Bizeps. Diesem Befund hätte man nach Angabe des Sachverständigen zwingend weiter durch Erstellung eines neuen MRT und Veranlassung einer erneuten neurologischen Untersuchung nachgehen müssen. Dabei ist insbesondere die differentialdiagnostische neurologische Untersuchung zum Ausschluss anderer neurologischer Erkrankungen erforderlich gewesen. Beide Untersuchungen waren danach für die Stellung der Operationsindikation zwingend erforderlich.

Vorgehen der Ärzte aus fachlicher Sicht unverständlich

Der Sachverständige hat diese Unterlassung aus medizinischer Sicht für vollkommen unverständlich erachtet und zur Begründung angeführt, dass sich infolge der unterlassenen Befunderhebung vor dem Eingriff keine sichere Diagnose ergeben hat. Nachdem mangels neurologischer Abklärung für die Verschlechterung keine Diagnose vorgelegen hat, hätte die Operation unter keinen Umständen stattfinden dürfen.

Das OLG hielt in Übereinstimmung mit dem Landgericht die Vornahme eines schwerwiegenden operativen Eingriffs ohne zuvor gesicherte Diagnose für grob fehlerhaft. Man hatte zu diesem Zeitpunkt eine unklare Situation bei einem vorliegenden Akutereignis und hat ohne weitergehende Befunderhebung einfach operiert. Der Sachverständige hat im Senatstermin angegeben, dass man wegen der unterlassenen Befunderhebung nicht genau sagen kann, ob ggf. eine absolute OP-Indikation bestanden hat. Er hat dargelegt, dass das Vorgehen der Ärzte der Beklagten aus fachlicher Sicht nicht mehr verständlich ist und dargelegt, dass ein Kandidat in der Facharztprüfung durchgefallen wäre, wenn er die streitgegenständliche Operation ohne vorherige neurologische Abklärung durchgeführt hätte.

Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € wegen schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen

Letztlich ist das zugesprochene Schmerzensgeld von 400.000 € angesichts der schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen auch zur Überzeugung des Senats nicht zu beanstanden. Durch die Operation war es zu einer kompletten Querschnittslähmung unterhalb C3/4 gekommen mit der Folge, dass der Klägerin keine Willkürbewegungen der Arme und Beine mehr möglich sind und das sensible Empfinden im Bereich des Stammes und der Extremitäten einschließlich des sexuellen Empfindens fehlt.

Aufgrund einer Zwerchfellbeeinträchtigung ist auch eine eigenständige, dauerhafte Atmung nicht mehr möglich, was eine Langzeitbeatmung zur Folge hat und zur Beeinträchtigung des Sprechvermögens geführt hat. Ferner besteht eine Blasen- und Darmentleerungsstörung sowie eine Störung der Magen-Darm-Funktion. Auch eine psychische Belastung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Aufgrund des dauerhaften und unabänderlichen Zustands und weil die Klägerin vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen ist, war nach Auffassung beider Instanzgerichte ein hohes Schmerzensgeld gerechtfertigt.

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