unberechtigte Freiheitsentziehung

OLG Saarbrücken, Urteil vom 23. November 2017 – 4 U 26/15, juris

60.000 € Schmerzensgeld

1. Zur Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für ein unrichtiges aussagepsychologisches Gutachten im Strafprozess.

2. Führt ein – grob fahrlässig erstelltes – unrichtiges aussagepsychologisches Gutachten im Strafprozess zu einer langjährigen Freiheitsentziehung wegen sexuellen Missbrauchs, können hohe Schmerzensgeldbeträge gerechtfertigt sein (eigener Leitsatz).

Fall:

Der Kläger verlangte von der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Gutachterhaftung Schadenersatz und Schmerzensgeld nach einer strafrechtlichen Verurteilung und Inhaftierung wegen sexuellen Missbrauchs, Wiederaufnahme des Verfahrens und anschließendem Freispruch.

Der vormals als technischer Bundeswehrbeamter beschäftigte, 1943 geborene Kläger war 2004 durch das Urteil der Jugendkammer des Landgerichts wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem Fall sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, in allen vier Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, begangen jeweils zum Nachteil der 1989 geborenen M. S., zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden.

Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern

Im Strafverfahren hatte die Beklagte zunächst gemäß dem Auftrag der Staatsanwaltschaft ein schriftliches aussagepsychologisches Gutachten erstattet, das sich auf die überlassenen Akten der Staatsanwaltschaft und die aussage- und testpsychologische sowie psychiatrische Untersuchung der Zeugin stützte. Später hatte die Beklagte in der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer nach Teilnahme an allen zuvor erfolgten Beweisaufnahmen ein mündliches Gutachten erstattet. In dem Gutachten stufte die Beklagte die Angaben der Zeugin M. S. mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft ein.

Zur Erstellung des Gutachtens lagen der Beklagten die vollständige Ermittlungsakte und die polizeilichen Videoaufnahmen der Vernehmung vor. Anlass der erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs waren Angaben der Zeugin M. S., die in den Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau als Pflegekind mit Einwilligung ihres leiblichen Vaters aufgenommen worden war. In der Folge kam es zu Konflikten, die in einem Vorfall mündeten, bei dem die Zeugin dem Kläger von hinten über die Hose an das Geschlechtsteil griff. Dies führte zur Beendigung des Pflegeverhältnisses mit dem Kläger und seiner Ehefrau. M. S. wurde nach entsprechender Mitteilung an das Jugendamt noch am gleichen Tag von ihrem leiblichen Vater abgeholt. Später erstattete der leibliche Vater Strafanzeige gegen den Kläger. Die in ihrer geistigen Entwicklung retardierte Zeugin M. S. war bereits vor der Aufnahme im Haushalt des Klägers im Zusammenhang mit Sexualverhalten aktenkundig gewesen. Hinsichtlich sexueller Aktivitäten war in den Unterlagen des H.-Hauses in B. ein Vorfall im Alter von 10½ Jahren dokumentiert, der sich mit einem fast 15-jährigen Jungen ereignete. Weiterhin war die Zeugin im Frühsommer 2002 Opfer eines Missbrauchs durch einen Mitschüler geworden, der sich mit der damals 13-Jährigen hinter ein Klavier in der Schule begab, ihr unter der Hose an die Scheide fasste und sodann bis zur Ejakulation onanierte.

Die Rechtsmittel des Klägers gegen seine Verurteilung hatten keinen Erfolg. Auf Grund des Urteils der Strafkammer verbüßte der Kläger von der verhängten dreijährigen Freiheitsstrafe insgesamt 683 Tage in verschiedenen Justizvollzugsanstalten. Hierbei stand er in der internen Sozialhierarchie jeweils auf unterster Stufe, sobald seine Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs in der Anstalt bekannt war. Der Kläger war vielfachen verbalen Angriffen ausgesetzt. Es kam auch zu einer versuchten Körperverletzung, als ein anderer Häftling einen Holzklotz in Richtung des Kopfes des Klägers bei dessen Hofgang warf, diesen aber letztlich verfehlte. Der Kläger litt dauerhaft unter Schlafstörungen und einem Tinnitus und wurde von Alpträumen heimgesucht.

Nachdem M. S. vergeblich gegen den Kläger auf Schmerzensgeld geklagt hatte, führte schließlich ein drittes Wiederaufnahmeverfahren des Klägers zu seinem rechtskräftigen Freispruch.

Grob fahrlässig erstelltes Gutachten der Sachverständigen

Der Kläger nahm nunmehr die Sachverständige auf Schmerzensgeld in Anspruch mit der Behauptung, ein sexueller Missbrauch der M. S. durch ihn habe nicht stattgefunden. Die Beklagte habe zumindest grob fahrlässig ein fehlerhaftes Gutachten erstellt, da Grundsätze der Transparenz und Nachvollziehbarkeit verletzt und wissenschaftliche Mindeststandards aussagepsychologischer Gutachten nicht eingehalten worden seien. Die Beklagte habe die Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung nach der StPO nicht genutzt. Die Erhebung der biografischen Anamnese und der Sexualanamnese seien unzulänglich gewesen. Es habe adäquate Informationsquellen gegeben, die herangezogen hätten werden können, insbesondere sei das angebliche Missbrauchsopfer dem Jugendamt bekannt gewesen. Mit seiner Klage begehrte der Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 80.000 €. Das Landgericht hat ihm ein solches in Höhe von 50.000 € zuerkannt. Mit seiner Berufung verfolgte der Kläger sein Begehren auf ein höheres Schmerzensgeld weiter.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 60.000 € zuerkannt.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme wurden weder das schriftliche noch das mündliche Gutachten der Beklagten auch nur den Mindestanforderungen gerecht, die der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes im Urteil vom 30.07.1999 (1 StR 618/98, BGHSt 45, 164 ff.) aufgestellt hat. Demnach besteht, wie der Sachverständige im Einzelnen an Hand der grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes ausgeführt hat, das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist (BGHSt 45, 164, 167 f.). Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sogenannte Nullhypothese).

Zur Überprüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Mit dieser Hypothesenbildung soll überprüft werden, ob die im Einzelfall vorliegende Aussagequalität durch sogenannte Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Die Nullhypothese sowie die in der Aussagebegutachtung im Wesentlichen verwendeten Elemente der Aussageanalyse (Qualität, Konstanz, Aussageverhalten), der Persönlichkeitsanalyse und der Fehlerquellen- bzw. der Motivationsanalyse sind gedankliche Arbeitsschritte, um die Zuverlässigkeit einer Aussage zu beurteilen. Sie sind nicht nur in einer Prüfungsstrategie anzuwenden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau.

Die für die Gutachterhaftung nach § 839a BGB (zumindest) erforderliche grobe Fahrlässigkeit war nach Überzeugung des OLG nach dem Ergebnis der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme zu bejahen. Der Gutachter muss hierzu unbeachtet gelassen haben, was jedem Sachkundigen hätte einleuchten müssen, und seine Pflichtverletzung schlechthin unentschuldbar sein. Nach den Feststellungen des Gerichts litt die Begutachtung der Beklagten an gravierenden methodischen Defiziten, die schlechthin unentschuldbar waren und zumindest mitursächlich waren für die Verurteilung des Klägers.

Schmerzensgeld in Höhe von 60.000 €

Bei Berücksichtigung aller Gesichtspunkte hielt das OLG im Unterschied zum Landgericht eine Bemessung des Schmerzensgeldes in Höhe von 60.000 € für angemessen.

Nach dem Dafürhalten des Senats fiel bei der Schmerzensgeldbemessung besonders ins Gewicht, dass der im 61. Lebensjahr verurteilte Kläger nicht nur von der verhängten dreijährigen Freiheitsstrafe insgesamt 683 Tage in verschiedenen Justizvollzugsanstalten verbüßte und dabei in der anstaltsinternen Sozialhierarchie jeweils auf unterster Stufe stand. Zu berücksichtigen war vielmehr auch, dass der Kläger viele Jahre danach zu Unrecht mit dem Makel des sexuellen Missbrauchs der Pflegetochter belastet war und erst das dritte Wiederaufnahmegesuch des Klägers im November 2013 – rechtskräftig – zum Freispruch führte. Diese besonderen Umstände, die den Kläger ersichtlich massiv belasteten, können bei der Festlegung der Höhe des Schmerzensgeldes nicht außer Betracht bleiben. Erst danach erfuhr der inzwischen 71-jährige Kläger die bereits dargestellte, allerdings dann sehr klare und umfangreiche Rehabilitation in der Öffentlichkeit.

Weitere Entscheidungen im Rahmen der Gutachterhaftung bzw. der unberechtigten Freiheitsentziehung

Diese Schmerzensgeldbemessung passt auch in den Referenzrahmen, der sich aus den vergleichsweise wenigen veröffentlichten Entscheidungen zum Schmerzensgeld im Rahmen der Gutachterhaftung bzw. der unberechtigten Freiheitsentziehung ergibt. So war einem Mann, der auf Grund eines grob fahrlässig fehlerhaften anthropologischen Vergleichsgutachtens u.a. wegen schwerer räuberischer Erpressung (Bankraubes) zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt wurde (von der er insgesamt 2.186 Tage [einschließlich erlittener Untersuchungshaft] bzw. 1.973 Tage [ohne erlittene Untersuchungshaft]) verbüßte, bis er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurde), im Jahr 2007 ein Geldentschädigungsanspruch zuerkannt worden, der nicht auf die Grenzen des StrEG beschränkt war.

Auf Grund einer Gesamtbetrachtung wurde ein Betrag von 150.000 € als billige Geldentschädigung wegen der erlittenen Freiheitsentziehung und der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als angemessen und ausreichend angesehen (OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 02.10.2007 – 19 U 8/07, juris Rn. 48 f.). Unter Berücksichtigung der Indexanpassung für 2017 entspricht dies 169.255 € (Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeld-Beträge 36. Aufl. Lfd. Nr. 2652). Einem 20-jährigen Mann, der auf Grund eines grob fahrlässig fehlerhaft erstellten Gutachtens eine neun Jahre lange Freiheitsentziehung erlitt durch Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern, in denen ihm während der Verweildauer Medikamente verabreicht wurden, war ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 500.000 DM zuerkannt worden (LG Marburg NJW-RR 1996, 216).

Unter Berücksichtigung der Indexanpassung für 2017 entspricht dies 337.670 € (Hacks/Wellner/Häcker, aaO Lfd. Nr. 2653). Einem anderen Mann, der auf Grund eines Versäumnisses seines Strafverteidigers (also nicht eines gerichtlichen Sachverständigen) 76 Tage Untersuchungshaft erlitt, wurde im Jahre 2005 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des dortigen Klägers ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000 € zuerkannt (KG NJW 2005, 1284). Unter Berücksichtigung der Indexanpassung für 2017 entspricht dies 8.348 € (Hacks/Wellner/Häcker, aaO Lfd. Nr. 2642).

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