OLG Hamm, Urteil vom 21. März 2017 – 26 U 122/09, juris (=VersR 2017, 1017)

500.000 € Schmerzensgeld

1. Erreicht der HB-Wert bei einer reanimierten Patientin den Bereich von 6 g/dl oder wird dieser Wert unterschritten, entspricht es dem medizinischen Standard, unverzüglich eine Bluttransfusion durchzuführen.

2. Das Unterlassen einer Bluttransfusion kann als grober Behandlungsfehler zu werten sein, wenn das klinische Gesamtbild der Patientin für eine absolute Indikation spricht. Bei einem hypoxischen Hirnschaden mit linksbetonter Parese nebst Spasmen, Sprach- und Schluckstörungen sowie erheblichen Hirnleistungsstörungen kann ein Schmerzensgeld von 500.000 Euro angemessen sein.

Fall:

Die Beklagte zu 7 überwies die 1955 geborene Klägerin als deren behandelnde Gynäkologin am 21.3.2002 wegen massiver Hypermenorrhoe mit dem Abgang eines Blutgerinnsels stationär in die Krankenanstalten H der Beklagten zu 1. Bei der Einweisung bestand eine ausgeprägte Anämie mit einem Hb-Wert von 7,5 g/dl. Der Beklagte zu 5 war in dem Krankenhaus der Chefarzt der Anästhesie. Der Beklagte zu 2 war der Oberarzt der gynäkologischen Abteilung. Dieser riet der Klägerin zu einer diagnostischen Hysteroskopie mit – je nach Befund – direkt anschließender Hysterektomie und führte ein chirurgisches Aufklärungsgespräch. Der Beklagte zu 6 übernahm die anästhesistische Aufklärung.

Am 26.3.2002 wurde die Klägerin durch den Beklagten zu 2 operiert, der zunächst die Gebärmutterspiegelung durchführte. Der Beklagte zu 3 vertiefte sodann zur Vorbereitung der Gebärmutterentfernung die Narkose. Im Folgenden fielen sodann zwischen 8:35 Uhr und 8:45 Uhr der Blutdruck und die Blutsauerstoffsättigung der Klägerin stark ab. Daraufhin eingeleitete Gegenmaßnahmen hatten zunächst keinen Erfolg. Die Klägerin musste ab 8:45 Uhr reanimiert werden. Nach der Stabilisierung der Kreislaufsituation wurde die Klägerin auf die anästhesiologische Intensivstation des Krankenhauses verlegt. Dort wurde zunächst die Gabe von Erythrozyten unterlassen. Die Hb-Werte bewegten sich bis zur ersten Bluttransfusion um ca. 20:00 Uhr zwischen 5,7 g/dl und 6,2 g/dl. Die Klägerin lag zweieinhalb Wochen im Koma. Seither ist sie wegen eines aufgrund Sauerstoffunterversorgung erlittenen Hirnschadens ein Schwerstpflegefall. Sie ist stark körperlich und geistig behindert und dauerhaft auf fremde Hilfe und Pflege angewiesen.

Rechtliche Beurteilung:

Die Klägerin hatte nach Auffassung des OLG u.a. einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 500.000 Euro gegen die Beklagten zu 1, 3 und 4. Der Beklagte zu 2 haftete dagegen nicht, weil sich gynäkologische Behandlungsfehler nicht feststellen ließen. Die Berufung hinsichtlich des Beklagten zu 5 war zurückgenommen worden. Gegen die Klageabweisung hinsichtlich der Beklagten zu 7 war bereits kein Rechtsmittel eingelegt worden.

Die Beklagten zu 3 und 4 hatten es fehlerhaft unterlassen, die Klägerin alsbald nach der Reanimation ab 9:30 Uhr mit Blutkonserven versorgen zu lassen.

Mangelnde Einhaltung der medizinischen Standards

Von den Beklagten war die Einhaltung des medizinischen Standards geschuldet, also dasjenige Verhalten, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann.

Diesen Anforderungen waren die Beklagten zu 3 und 4 nach den überzeugenden Darlegungen des anästhesiologischen Gutachters nicht gerecht geworden, soweit sie die Gabe von Bluttransfusionen nicht unmittelbar nach der Reanimation, sondern erst ca. 10 Stunden später begonnen hatten, obwohl sich zwischenzeitlich die Hb-Werte in einem Bereich von nur 5,7 g/dl bis 6,2 g/dl bewegt haben.

Den Beklagten war zuzugeben, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg im Sinne einer prospektiv randomisierten Studie dafür gibt, dass bei einem Hb-Wert von unter 6,0 g/dl zu transfundieren ist. Ebenso wenig gaben die von den Beklagten herangezogenen seinerzeit geltenden Transfusionsrichtlinien (ebenso wie die erst im Jahr 2014 veröffentlichte Richtlinie) einen zur Transfusion zwingenden Grenzwert an, sondern sprachen differierende Empfehlungen unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte – etwa Blutverlust, Alter des Patienten, chronische Anämie – aus.

Der Sachverständige hatte aber darauf hingewiesen, dass es das ärztliche Ziel sein müsse, dem Patienten die größtmöglichen Chancen für eine vollständige Gesundung zu verschaffen. Dazu ist es erforderlich, die Sauerstoffunterversorgung des Gehirns schnellstmöglich zu beenden, um die Schädigung des betroffenen und des umliegenden Gebietes (sog. Schatten) zu vermeiden. Vor dem Hintergrund der möglichen Schädigung des Schattens erschien es auch plausibel, dass sich die Beklagten auch nicht allein auf die ermittelten Laborwerte – Hb-, Laktat- und Base excess-Werte – verlassen durften, sondern auch eine damit nicht hinreichend abgebildete Unterversorgung der Randbereiche in Betracht ziehen mussten. Entscheidend erschien jedoch, dass der Sachverständige darauf hingewiesen hatte, dass für die Entscheidung gegen oder für die Erythrozytengabe nicht allein der Hb-Wert, sondern das klinische Gesamtbild maßgeblich war, das hier insbesondere durch die Notwendigkeit der Reanimation geprägt war.

Es erschien dann aber überzeugend, dass der Sachverständige jedenfalls für den vorliegenden Fall bei einer Gesamtschau Erythrozytengaben ab einer Unterschreitung von 6,0 g/l zwingend gefordert hatte. Denn bei der Klägerin handelte es sich nicht um einen gesunden Menschen, sondern um eine Patientin, die ausweislich des Narkoseprotokolls einen erheblichen Blutdruckabfall erlitten hatte, reanimiert werden musste, und nicht von selbst wieder aufgewacht war. Die unverzügliche Gabe von Bluttransfusionen zur Anhebung des Hb-Wertes war damit absolut indiziert. Die bei einer Bluttransfusion immer gegebenen Gefahren traten demgegenüber zurück.

Der Senat bewertete das Versäumnis als grob fehlerhaft, also als einen Fehler, bei dem eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen wird und der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Die Folge der Bewertung als grober Behandlungsfehler war, dass zugunsten der Klägerin eine Beweislastumkehr eingriff, die den Primärschaden und alle Folgeschäden erfasste, die die konkrete Ausprägung des Fehlers darstellten.

Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 € nach Beweislastumkehr

Der Senat hielt vorliegend ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 Euro für gerechtfertigt.

Die Klägerin leidet infolge des hypoxischen Hirnschadens an einer linksbetonten Parese mit Spasmen, Sprachstörungen und Schluckstörungen. Überdies zeigen sich erhebliche Hirnleistungsstörungen mit agnostischen und apraktischen Komponenten sowie Einschränkungen des Gedächtnisses. Die Situation verschlechtert sich dabei schleichend. Das Erinnerungsvermögen der Klägerin hält nur 60 – 90 Minuten an. Es kommt zu Stürzen und Inkontinenz.

Der Senat hat bei der Bewertung der o.a. Beeinträchtigungen insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin nie mehr ein eigenständiges Leben wird führen können und schon bei den einfachsten Anforderungen des Lebens andauernd auf fremde Hilfe angewiesen ist. Vor allem aber ist ihr durch die Gedächtnisstörungen die Möglichkeit genommen, ein Bewusstsein für eine größere Zeitspanne und damit für ein zusammenhängendes Leben zu entwickeln. Eine eigenständige Persönlichkeit, zu der auch die Fähigkeit zur Erinnerung an die eigene Vergangenheit gehört, ist damit weitgehend zerstört.

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