OLG München, Urteil vom 17.4.2014 – 24 U 3089/13

125.000 € Schmerzensgeld

Eine komplette Querschnittslähmung hüftabwärts mit sozialer Isolation kann die Zusprechung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 125.000 € rechtfertigen.

Fall:

Der Kläger, bei dem anlässlich der Entfernung des rechten Hodens die Infiltration durch ein malignes Lymphom festgestellt worden war, unterzog sich (damals 57-jährig) im Krankenhaus der Beklagten einer chemotherapeutischen Behandlung im Rahmen eines Studienprogramms (sogenannte Flyer-Studie). Diese Studie, an der mehrere Personen teilnahmen, bestand beim Kläger aus einer in gewissen zeitlichen Abständen durchzuführenden 6-maligen intravenösen Chemotherapie und zusätzlich einer 4-maligen Injektion des Chemotherapeutikums Methotrexat in den Wirbelkanal (= intrathekale MTX-Injektion).

Unmittelbar nach der ersten MTX-Injektion stellten sich beim Kläger ein Harnverhalt, Stuhlinkontinenz sowie eine beginnende Parese der Beine ein (cauda-equina-Syn-drom). Mittlerweile leidet der Kläger hüftabwärts unter einer kompletten Querschnittslähmung. Er ist zu 100 % schwerbehindert.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG führte u.a. aus:

Zwar war die Behandlung des Klägers in der Klinik der Beklagten im Rahmen der Flyer-Studie und nach dem Auftreten der ersten Lähmungserscheinungen nicht zu beanstanden. Nach Auffassung des Senats fehlte es für die zu verabreichenden intrathekalen MTX-Injektionen aber an einer ordnungsgemäßen Aufklärung über das zwar seltene, aber typische Risiko einer Querschnittslähmung, so dass die ärztlichen Eingriffe insoweit nicht von der Einwilligung des Klägers gedeckt waren.

Patient wurde nach Auffassung des Senats nicht ordnungsgemäß über Risiko der Querschnittslähmung aufgeklärt

So wie vor Durchführung einer Myelographie gehört auch bei einer intrathekalen Injektion in den Rückenwirbelkanal ein Hinweis auf Lähmungserscheinungen bis hin zur Querschnittslähmung zur erforderlichen Grundaufklärung (so BGH NJW 96, 777 zur Myelographie).

Der Kläger hat einen ernsthaften Entscheidungskonflikt nachvollziehbar plausibel gemacht, so dass der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens (hypothetische Einwilligung im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung) nicht durchgreift. Ob der Entscheidungskonflikt „vernünftig“ ist, ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht maßgeblich. Dem Patienten bleibt hier ein persönlicher Entscheidungsspielraum.

Eigentumswohnung kann nicht mehr ohne Hilfe Dritter bewerkstelligt werden

Der Schmerzensgeldanspruch ist in Höhe von 125.000 € begründet. Der Kläger ist hüftabwärts gelähmt mit allen üblichen organischen Begleiterscheinungen. Besonders belastend für den Kläger ist, dass er seine im ersten Stock gelegene Eigentumswohnung, die über keinen Aufzug verfügt, nur verlassen kann, wenn ihn jemand die Treppe hinunterträgt und wieder hinaufträgt. Nachdem die Ehefrau, welche als Putzfrau in Teilzeit arbeitet und den Kläger ansonsten versorgt, dies nicht bewerkstelligen kann, ist er auf die Hilfe Dritter, z.B. des Schwiegersohns angewiesen. Aufgrund der ungünstigen Wohnsituation ist der Kläger damit im Wesentlichen innerhalb der eigenen vier Wände isoliert. Soziale Kontakte brechen weg. Nachdem weitere Beeinträchtigungen von Klageseite nicht vorgetragen wurden, ist ein höheres Schmerzensgeld als 125.000 € nicht zuzusprechen.