OLG Hamm, 4.12.2015 – 26 U 33/14 – juris; VersR 2016, 601

100.000 Euro Schmerzensgeld

1. Eine Injektionsbehandlung kann grob fehlerhaft sein, wenn bei persistierenden Beschwerden keine bildgebende Diagnostik erfolgt. Für einen Facharzt drängt sich bei einem Sturzereignis die röntgenologische Befundung als absoluter Standard gerade zu auf.

2. Wird bei einer Cortisoninjektion ein Frakturspalt übersehen, so kann darin ein grober Behandlungsfehler liegen.

3. Für einen 8 Monate erforderlichen Krankenhausaufenthalt mit eingetretener Sepsis, Multiorganversagen, multiplen Abszessen und einer Langzeitbeatmung kann ein Schmerzensgeld von 100.000 € angemessen sein.

Fall:

Die Klägerin fiel bei der Einweisung von Arbeiten auf dem Gelände des von ihr geführten Hotels auf das Gesäß. Sie begab sich deshalb in die ambulante Behandlung des Beklagten zu 1), der nach klinischer Untersuchung, jedoch ohne Röntgenbefundung, einen Knochenhautreizzustand an der Steißbeinspitze diagnostizierte und insgesamt 8 Infiltrationen durchführte.

Aufgrund einer Beschwerdeverschlimmerung wurde die Klägerin in die Universitätsklinik Göttingen verbracht. Die dortige röntgenologische Untersuchung erbrachte keinen Hinweis auf eine frische knöcherne Verletzung. Sie wurde auf eigenen Wunsch hin entlassen. Sie begab sich sodann zur Behandlung in das Institut des Beklagten zu 2). Dort wurde am selben Tage unter anderem ein Magnetresonanztomogramm (MRT) der Lendenwirbelsäule und des Wosakralgelenks angefertigt und sodann 5 Injektionsbehandlungen mit CT-Unterstützung durchgeführt.

Beklagte wurde wegen ihres zunehmend schlechten Zustands in mehrere Kliniken eingewiesen

Wegen andauernder sich eher verstärkender Beschwerden kam es zu einem Hausbesuch durch den Beklagten zu 1). Dieser nahm weitere schmerzstillende Infiltrationen vor. In der Folgezeit befand sich die Klägerin zunächst in stationärer Behandlung im Krankenhaus (Streithelfer zu 1)), danach in der neurologischen Abteilung der Universitätsklink (Streithelferin zu 2)) und schließlich in stationärer Behandlung in einer berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Daran schlossen sich Rehabilitationsmaßnahmen an.

Im Verlauf der Behandlung stellte sich heraus, dass die Klägerin mit Staphylococcus aureus infiziert war, was zu multiplen Abszessen, multiplem Organversagen und einem zeitweilig lebensgefährlichen Verlauf mit zweimaligem animationspflichtigem Zustand und mehrfachen Revisionsoperationen führte. Ferner wurde festgestellt, dass bei der Patientin eine schon länger bestehende Fraktur des Beckens im Bereich des Os sacrum bestand.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG bejahte einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagten:

Nach den Umständen des Streitfalles war eine bildgebende Befundung des Beklagten zu 1) in Richtung auf eine mögliche Fraktur auch im Bereich des Os Sacrum zwingend geboten.

Die Folge des Unterlassens ausreichender Befundung war zunächst, dass eine Infiltrationstherapie fortgeführt wurde, die tatsächlich wegen des Vorliegens einer Fraktur im Bereich des Os sacrum kontraindiziert gewesen ist. Ob allerdings die mit dem Sachverständigen zu fordernde bildgebende Befundung tatsächlich das Vorliegen einer Fraktur erbracht hätte, erscheint zweifelhaft, ist aber aus den nachfolgenden Gründen irrelevant. Der Senat bewertet das Unterlassen der zwingend notwendigen Befundung als groben Befunderhebungsfehler. Der grobe Befunderhebungsfehler führt zu einer Umkehr der Beweislast, dass eine bildgebende Befundung tatsächlich das Vorliegen einer Fraktur erbracht hätte und die bei der Klägerin eingetretenen Infektionen und Abszesse eine Folge der durchgeführten Injektionen gewesen ist.

Der Beklagte zu 2) haftet jedenfalls deshalb, weil seinen Mitarbeitern haftungsbegründende Diagnosefehler bei der Auswertung des MRT und den nachfolgenden CT-Aufnahmen unterlaufen sind, sowie deshalb, weil bei der Patientin fehlerhaft eine Injektion in den Frakturspalt hineingesetzt worden ist. Die bei der Auswertung des MRT gestellte Diagnose als nicht frakturverdächtig stellt einen Diagnosefehler dar. Der Radiologe weist in seinem Gutachten darauf hin, dass im MRT dringend fraktursuspekte Befunde insbesondere in Form einer signalreichen Flüssigkeitskollektion im Frakturspalt zu erkennen gewesen sind. Eine Cortisoninjektion war auf dieser Grundlage absolut kontraindiziert, weil sie die Immunabwehr herabsetzte und damit die Gefahr für eine Infektion vergrößerte. Der Senat bewertet bereits die Injektion in den Frakturspalt als groben Behandlungsfehler. Der Beklagte zu 2) haftet deshalb ebenfalls in vollem Umfang.

Auch wenn eine Röntgenaufnahme nicht zwingend den notwendigen Befund erbracht hätte, liegt ein grober Behandlungsfehler vor

Die Schmerzensgeldsforderung war in der vom Landgericht zuerkannten Höhe von 100.000 € zu bestätigen. Der Senat hat dabei insbesondere die nachfolgend aufgeführten Umstände berücksichtigt:

Vorliegend hat sich die Klägerin lange Zeit in stationärer Behandlung befunden, zunächst im Krankenhaus H, sodann in der berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Die Klägerin hat demnach mehr als 8 Monate im Krankenhaus verbracht. Diese Krankenhausaufenthalte waren Folge der Injektion durch die Beklagten, die nach den Ausführungen des Sachverständigen zu multipler Abszessbildung der Lendenwirbelsäule mit Ausbreitung in die Psoasloge, das kleine Becken und den rechten Oberschenkel geführt haben. Darüber hinaus sind darauf epidurale Abszesse im Bereich L4/5, eine Entzündung von Wirbel und Zwischenwirbelscheiben Spondylodiszitis BWK 8/9, ein Multiorganversagen mit akutem Nierenversagen, akutem Lungenversagen, ARDS und akutem Leberversagen sowie mehrfache septischen Schübe mit multiplen Abszessen zurückzuführen, die unter anderem eine Langzeitbeatmung, eine Punktionstracheotomie sowie eine Langzeitantibiose erforderlich machten. Die Klägerin leidet unter Dauerfolgen, auch wenn sich diese im Verlauf der Behandlung abgeschwächt haben. Infolge der notwendig gewordenen mehrfachen Operationen ist es zu mehrfachen Narbenbildungen gekommen, die nach den Ausführungen des Sachverständigen zu Narbenschmerzen führen. Darüber hinaus liegt bei der Klägerin eine allgemeine Schwäche infolge der eingetretenen Komplikationen vor, weiter eine erhebliche Reduzierung des Allgemeinzustandes einschließlich Mobilisations- und Bewegungseinschränkungen. Der Sachverständige hat dazu ausgeführt, dass von einer weiteren Besserung der Beschwerden in den nächsten Jahren sicher nicht auszugehen sei. Er hat auch erneut bestätigt, dass sämtliche Folgen auf die nach der Kreuzbeinverletzung entstandene Infektion mit Multiorganversagen zurückzuführen sind, während bei komplikationsloser Ausheilung der nicht dislozierten Kreuzbeinfraktur in der Regel zu erwarten gewesen wäre, dass Mobilität und Belastbarkeit des Verletzten wieder erreicht würden.