OLG Frankfurt, Urteil vom 26. Februar 2015 – 15 U 72/14, juris
100.000 € Schmerzensgeld
Aufgrund der schweren Verletzungen, die beim Kläger die Amputation des linken Beines bis oberhalb des Kniegelenks erforderlich machten, ist die Zusprechung eines Schmerzensgeldes in Höhe von jedenfalls 100.000 € gerechtfertigt.
Fall:
Der Kläger machte gegen den Beklagten Schadenersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.
Am Unfalltag befuhr der Beklagte mit seinem Motorrad eine Landstraße. Dabei überholte er zunächst den in seiner Fahrtrichtung vor ihm fahrenden, vom Zeugen A gelenkten Pkw und beabsichtigte, anschließend auch den vor dem Fahrzeug des Zeugen A fahrenden Pkw der Zeugin B zu überholen. Zur gleichen Zeit befuhr der Kläger – ohne im Besitz einer dafür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein – mit seinem Motorrad die Straße in entgegengesetzter Richtung. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten bzw. wegen einer Geländekuppe stellte der Beklagte erst unmittelbar, nachdem er zum Überholen des Pkw der Zeugin B angesetzt hatte bzw. nach links ausgeschert war, fest, dass ihm der Kläger auf der Gegenfahrbahn entgegenkam. Während des vom Beklagten gleichwohl durchgeführten Überholvorgangs kam es sodann jeweils auf der linken Seite der Motorräder zu einem streifenden Anstoß. Infolgedessen kamen sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu Fall und zogen sich dabei schwerste Verletzungen zu, die beim Kläger unter anderem noch am Unfalltag im Wege einer Notfalloperation die Amputation des linken Beines bis oberhalb des Kniegelenkes erforderlich machten. Aufgrund der mit der Beinamputation einhergehenden körperlichen Behinderung musste der Kläger unter anderem seine bisherige Wohnung aufgeben und in eine behindertengerechte Wohnung nebst Kfz-Stellplatz umziehen. Die Parteien stritten insbesondere darüber, an welcher Stelle bzw. auf welcher Seite der Fahrbahn der Unfall stattgefunden hatte. Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme in vollem Umfang stattgegeben und ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 100.000 € für gerechtfertigt erachtet. Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Rechtliche Beurteilung:
Das OLG führte u.a. aus: Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf vollständigen Ersatz der ihm infolge des Verkehrsunfalles entstandenen Schäden und demgemäß einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in der vom Landgericht zugesprochenen Höhe gemäß §§ 7 Abs. 1, 11, 17 Abs. 1, 2 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB. Der Beklagte hat nämlich als Führer seines Motorrades den Unfall, an dem der Kläger mit seinem Motorrad beteiligt war, allein verursacht und verschuldet.
Im Rahmen der Haftungsabwägung gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG kommt eine Verteilung des Schadens nicht in Betracht. Dahingestellt bleiben kann deshalb, ob der Unfall für den Kläger oder den Beklagten, was für diesen von vorneherein ohnehin nicht angenommen werden kann, ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Denn der Verursachungsbeitrag und das Verschulden des Beklagten am Zustandekommen des Unfalles überwiegen derart, dass eine Mithaftung des Klägers ausscheidet. Bei der nach §§ 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungsbeiträge der am Unfall Beteiligten sind nämlich nur unstreitige, zugestandene oder erwiesene Tatsachen zugrunde zu legen.
Zu Lasten des Beklagten steht fest, dass er unter Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO zum Überholen des Fahrzeugs der Zeugin B angesetzt und anschließend den Überholvorgang durchgeführt hat. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO darf nämlich nur überholen, wer übersehen kann, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Dabei muss der Überholer überblicken können, dass der gesamte Vorgang vom Ausscheren bis zum Wiedereingliedern mit dem richtigen Abstand unter Berücksichtigung etwaigen erst während des Überholens auftauchenden Gegenverkehrs für einen durchschnittlichen Fahrer ohne irgendein Wagnis gefahr- und behinderungslos möglich sein werde. Muss er zum Überholen die Gegenfahrbahn benutzen, darf er nur Überholen, wenn er diese auf der gesamten zum Überholen benötigten Strecke zuzüglich des Weges überblicken kann, den ein etwaiges mit zulässiger
Höchstgeschwindigkeit entgegenkommendes Fahrzeug zurücklegt. Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Landgericht nach dem Ergebnis der im ersten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei dem Fahrverhalten des Beklagten um einen groben Verkehrsverstoß gehandelt hat, weil er den Überholvorgang insbesondere auch unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn durchgeführt hat und es deshalb auf der Fahrspur des Klägers zum Zusammenstoß der Motorräder gekommen ist.
Verteilung des Schadens kam für Richter nicht in Betracht
Demgegenüber kann nicht festgestellt werden, dass der Verkehrsunfall nicht lediglich auf einen Verkehrsverstoß des Beklagten, sondern auch auf ein im Rahmen der Haftungsabwägung zu berücksichtigendes Fehlverhalten des Klägers zurückzuführen ist. Insbesondere hat der Kläger nicht gegen § 2 Abs. 2 StVO verstoßen, indem er nach seinem eigenen Vorbringen zum Unfallzeitpunkt nicht möglichst weit rechts gefahren ist, sondern in seiner Fahrtrichtung mit einem Abstand von jedenfalls mehr als 0,5 m zur Mittellinie hin. Denn nach der Rechtsprechung des BGH, der sich der Senat anschließt, ist dem Rechtsfahrgebot, das neben dem Überholverkehr auch den Gegenverkehr schützt, in der Regel noch genügt, wenn der Kraftfahrer einen Abstand zur Mittellinie von etwa 0,5 m einhält (vgl. BGH NJW 1990, 1850). Ebenso wenig kann angenommen werden, dass der Kläger, wie vom Beklagten behauptet, zum Unfallzeitpunkt unter Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 2 c StVO mit einer Geschwindigkeit von ca. 130 km/h gefahren ist. Es sind nämlich Anhaltspunkte, die für die pauschale Behauptung des Beklagten sprechen, dass der Kläger die im Bereich der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h überschritten habe, nicht ersichtlich und haben sich auch nicht aufgrund der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme ergeben. Demgemäß kann im Rahmen der Haftungsabwägung nur angenommen werden, dass der Kläger nicht schneller als mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gefahren ist, er mithin einen Verkehrsverstoß nicht begangen hat.
Schließlich hat bei der vorzunehmenden Haftungsabwägung unberücksichtigt zu bleiben, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt die zum Führen seines Kraftrades erforderliche Fahrerlaubnis nicht besessen hat, weil sich dies nicht auf das Unfallgeschehen ausgewirkt bzw. nicht zum Unfall beigetragen hat. Insbesondere hat der Beklagte weder hinreichend dargetan noch ist nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme entsprechend seinem Vorbringen davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Fahrausbildung bzw. des Besitzes einer Fahrerlaubnis durch Einleitung eines entsprechenden Fahrmanövers auf die Verkehrssituation hätte reagieren und den Unfall vermeiden können. Auch bei diesem Vortrag des Beklagten handelt es sich wiederum um eine durch nichts belegbare Vermutung und damit ebenfalls um nicht substantiierten, also unbeachtlichen Vortrag, zumal der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten überzeugend festgestellt hat, dem Kläger habe lediglich ein Zeitrahmen von 0,7 Sekunden zur Verfügung gestanden, um auf das Fahrverhalten des Beklagten zu reagieren, womit es ihm letztlich unmöglich war, sich auf dieses grob verkehrswidrige Fahrverhalten einzustellen und die Kollision der Motorräder durch Einleitung eines entsprechenden Fahrmanövers, etwa eine Ausweichbewegung nach rechts, zu vermeiden.
Fehlverhalten des Klägers nicht nachweisbar
Kann mithin insgesamt nicht angenommen werden, dass der Kläger den Unfall durch ein schuldhaftes Fehlverhalten oder durch einen Verkehrsverstoß mitverursacht hat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Betriebsgefahr seines Motorrades erhöht war. Nachdem jedoch feststeht, dass der Verkehrsunfall auf einen groben Verkehrsverstoß des Beklagten zurückzuführen ist, weil er unter Verstoß gegen § 5 Abs. 2 StVO überholt hat, ist es gerechtfertigt, die dem Kläger anzulastende Betriebsgefahr seines Motorrades vollständig zurücktreten zu lassen. Der Beklagte hat deshalb für den dem Kläger infolge des Verkehrsunfalles entstandenen Schaden in vollem Umfange einzustehen.
Damit steht dem Kläger gegen den Beklagten auch ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu (§ 11 Satz 2 StVG, § 253 Abs. 2 BGB). Im Hinblick auf die schweren Verletzungen, die beim Kläger die Amputation des linken Beines bis oberhalb des Kniegelenks erforderlich machten, ist die Zusprechung eines Schmerzensgeldes in der vom Landgericht angenommenen Höhe von jedenfalls 100.000 € gerechtfertigt, und zwar unabhängig davon, ob der Kläger nach seinem insoweit bestrittenen Vorbringen hierneben als Folge des Unfalls eine disseminierte intravaskuläre Koagulation und Blutungsanämie erlitten hat. Vorliegend bildet die wesentliche Grundlage für die Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes das Maß und die Dauer der Lebensbeeinträchtigung, die der Kläger infolge der Amputation erlitten hat, die Dauer der Behandlung und der Arbeitsunfähigkeit sowie der Grad des Verschuldens des Beklagten und die Gesamtumstände des Unfalles. Gemessen daran ist die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Betrages nicht zu beanstanden.