
Fall:
Der Kläger machte gegen den Beklagten, einen niedergelassenen Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Schadensersatzansprüche wegen einer fehlerhaften gynäkologischen Behandlung seiner Mutter am 06.11.2008 geltend.
Schwere körperliche und geistige Schäden durch Sauerstoffunterversorgung
Er warf dem Beklagten vor, auf eine bei ihm bestehende Sauerstoffunterversorgung nicht fachgerecht reagiert zu haben, wodurch es bei ihm zu schweren dauerhaften körperlichen und geistigen Schäden gekommen sei.
Die Schwangerschaft der Mutter des Klägers verlief zunächst unauffällig. Insbesondere wurden bei den vorangegangenen Untersuchungen in der Praxis des Beklagten am 18.09. und 17.10.2008 weder im CTG noch im Hinblick auf die Entwicklung des Klägers Auffälligkeiten festgestellt. Bei der Behandlung am 06.11.2008 wurde – überobligatorisch – vom Praxispersonal des Beklagten ein in den Mutterschaftsrichtlinien nicht vorgeschriebenes CTG abgeleitet, das pathologisch war. Dies wurde dem Beklagten nicht sogleich vorgelegt, sodass er erst bei der nachfolgenden Ultraschalluntersuchung den pathologischen Zustand des Feten bemerkte. Daraufhin schickte der Beklagte die Mutter des Klägers zunächst mit dem eigenen Pkw nach Hause und danach in das nächste Perinatalzentrum, obwohl es noch ein näher gelegenes Krankenhaus gab, in dem der Kläger hätte entbunden werden können. Der Kläger behauptete, dass eine schwere Hirnschädigung hätte vermieden werden können, wenn der Beklagte das CTG rechtzeitig ausgewertet und fachgerecht reagiert hätte.
Rechtliche Beurteilung:
Das sachverständig beratene OLG bewertete das Verhalten des Beklagten jedenfalls in der Gesamtschau als groben Behandlungsfehler, der zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der zuzurechnenden Folgen führte.
Einen ersten Behandlungsfehler sah das OLG bei der Auswertung des CTG. Es gelangte auf Grundlage des Sachverständigengutachtens zu dem Ergebnis, dass auch im Falle einer nach den Mutterschaftsrichtlinien nicht gebotenen Untersuchung aus den dabei erhobenen Befunden die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden müssen. Zeigt sich im Rahmen dieser Untersuchung ein pathologischer Befund, muss hierauf ebenso schnell wie bei einer nach den Mutterschaftsrichtlinien gebotenen Untersuchung reagiert werden. Dies kann wiederum nur dadurch sichergestellt werden, dass auch insoweit eine zeitnahe Erstsicht auf grobe Pathologien durch eine kompetente Person gewährleistet ist. Wenn – wie in der Praxis des Beklagten – nichtärztliches Personal das CTG abnimmt, das nicht dahingehend geschult und instruiert ist, ein eindeutig pathologisches CTG zu erkennen und dem Beklagten zur Kenntnis zu bringen, muss eine zeitnahe Erstsicht des Beklagten persönlich sichergestellt sein, um auf mögliche pathologische Befunde rechtzeitig reagieren zu können.
Ein weiterer Behandlungsfehler stand nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme im Zusammenhang mit der Krankenhauseinweisung der Mutter des Klägers zur Überzeugung des OLG fest, weil die Mutter des Klägers aufgrund der Hochrisikokonstellation – silentes CTG und Reverse Flow – unverzüglich nach der Diagnosestellung notfallmäßig in das nächstgelegene Krankenhaus in X hätte eingewiesen werden müssen.
Patientin nur unzureichend über Dringlichkeit der Lage informiert
Darüber hinaus stand als dritter Behandlungsfehler zur Überzeugung des OLG fest, dass der Beklagte die Mutter des Klägers nur unzureichend über den Ernst der Lage und die Erforderlichkeit, schnellstmöglich ein Krankenhaus aufzusuchen, informiert hat, weil unstreitig weder von einem „Notfall“ noch von „dringlich“ die Rede war.
Diese Behandlungsfehler waren nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zumindest mitursächlich für die bei dem Kläger eingetretene Gehirnschädigung.
Bei der Feststellung der Kausalität kamen dem Kläger Beweiserleichterungen zugute. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme stand zur Überzeugung des OLG fest, dass das Behandlungsgeschehen jedenfalls in der gebotenen Gesamtbewertung als grob fehlerhaft zu bewerten war. Grob ist ein Behandlungsfehler dann, wenn er aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf.
Mehrere nicht besonders schwerwiegende Einzelfehler können in der Gesamtwürdigung einen groben Behandlungsfehler begründen
Die Beurteilung hat dabei stets das gesamte Behandlungsgeschehen zum Gegenstand, so dass auch mehrere Einzelfehler, die für sich genommen nicht besonders schwer wiegen, in der Gesamtwürdigung einen groben Behandlungsfehler begründen können. Der Sachverständige hatte in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass er bereits außer sich gewesen wäre, wenn ein Mitarbeiter in seiner Klinik zwei Fehler bei einer Patientin gemacht hätte.
Auch wenn die danach bei dem Kläger eingetretenen Beeinträchtigungen erheblich sind, rechtfertigten sie jedoch nach Auffassung des OLG nicht den von ihm für angemessen erachteten Schmerzensgeldbetrag i.H.v. 500.000 €. Insoweit sei zu beachten, dass Maximalbeträge in der Größenordnung von 500.000 €, wie der Kläger sie vorliegend für angemessen hielt, von der Rechtsprechung lediglich bei allerschwersten Beeinträchtigungen zuerkannt werden (vgl. z.B. OLG Hamm, Urteil vom 21.05.2003, Az.: 3 U 122/02). Diese schwersten Beeinträchtigungen lagen bei dem Kläger hingegen nicht vor.
400.000 € Schmerzensgeld wegen eingeschränkter Teilnahme am Leben
Immerhin ging er zu einer Förderschule, er konnte – mit Hilfestellung – selbst essen und musste nicht über eine Sonde ernährt werden, er konnte mithilfe von Orthesen laufen und mithilfe von Hörgeräten hören, er konnte sehen und so zumindest eingeschränkt am Leben teilnehmen. Daher war nach Ansicht des OLG unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen zuerkannten Beträge zum Ausgleich der erlittenen immateriellen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € angemessen, aber auch ausreichend (vgl. insoweit auch OLG Bamberg, Urteil vom 19.09.2016, Az.: 4 U 38/15; OLG Hamm, Urteil vom 30.10.2015, 26 U 130/08; OLG München, Urteil vom 30.05.2007, Az.: 1 U 3999/06).