
OLG München, Urteil vom 23. Januar 2020 – 1 U 2237/17 – eingereicht von VRiOLG Dr. Thomas Steiner
- 253 BGB
Eine grob behandlungsfehlerhaft verursachte Querschnittslähmung bei einem 14-jährigen Mädchen (unterhalb C4, ab C7 vollständig) kann ein Schmerzensgeld von 500.000 € rechtfertigen.
Fall:
Die Parteien stritten um Schmerzensgeld, Schmerzensgeldrente und Feststellung der Haftung der Beklagten wegen einer Behandlung der Klägerin im Hause der Beklagten zu 1) zwischen dem 16.06.2008 und dem 18.07.2008. Bei der damals 14-jährigen Klägerin sollte eine aufgrund angeborener Muskelschwäche (Central-Core-Myopathie) vorliegende starke Verkrümmung der Wirbelsäule operativ mittels einer Korrekturspondylodese (Aufrichtungsoperation) korrigiert werden. Der operative Eingriff erfolgte am 19.06.2008. Während der Operation, welche durch Oberarzt Dr. X durchgeführt wurde, kam es zu einem gravierenden Blutverlust, einem Hämoglobinabfall und zur Kreislaufinstabilität.
Bei einem intraoperativen Aufwachtest konnten alle Extremitäten auf Anforderung kräftig bewegt werden. Postoperativ wurde die Klägerin auf die Intensivstation verlegt, für die Zeit direkt nach Verlegung ist ebenfalls eine kräftige Beugung und Streckung beider Beine sowie kräftige Bewegung beider Arme dokumentiert. Gegen 16.15 Uhr wurde der Klägerin wegen ihres kreislaufinstabilen Zustands vom Beklagten zu 2), der angestellter Oberarzt (Anästhesie) bei der Beklagten zu 1) war, ein zentraler Venenkatheter (ZVK) gelegt. Hierbei kam es zu einer Katheterfehllage, indem das Ende des Katheters nicht, wie beabsichtigt, in der Hohlvene vor dem Vorhof des Herzens zum Liegen kam, sondern – mit Eintritt über das Neuroforamen (BWK 1/2) – im Spinalkanal. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist dem Beklagten zu 2) hinsichtlich dieser Fehllage des Katheters kein Behandlungsfehler vorzuwerfen, das Anlegen des ZVK verlief problemlos und es konnte anschließend Blut aus allen drei Lumina aspiriert werden.
LG beurteilt Katheterfehllage nicht als Behandlungsfehler
Die Fehllage des ZVK wurde erst um 7:30 Uhr am Morgen des 20.06.2008 vom Beklagten zu 2) bei einer Nachbefundung der nächtlichen CT-Bildgebung erkannt. Dies führte zur umgehenden Entfernung des ZVK und (nach weiterer Diagnostik u. a. durch ein MRT) zu einer Dekompressionsoperation. Die Instrumentierung wurde später in einer weiteren Operation wieder eingesetzt. Die Klägerin ist nunmehr unterhalb C4 querschnittsgelähmt (Tetraplegie), ab C7 ist die Lähmung vollständig. Die Klägerin bedarf seither umfassender Pflege. Sie warf den Beklagten Behandlungsfehler bei der nachoperativen Versorgung am 19.06.2008 und in der darauffolgenden Nacht vor und sah darin die Ursache für ihre Querschnittslähmung.
Rechtliche Beurteilung:
Die Klägerin kann nach Auffassung des OLG Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 € verlangen. Es hat hierzu im Wesentlichen ausgeführt:
Der Senat folgt dieser gut nachvollziehbaren Bewertung. Wesentlich erscheint hierbei, dass der Fehlervorwurf nicht dahin geht, dass die befundenden Ärzte die singuläre Fehllage im Spinalkanal nicht erkannt haben, sondern dass sie dem ZVK ausdrücklich – insgesamt – eine typische Lage („in loco typico“) zugeschrieben haben, obwohl er diese nach der Röntgenkontrollaufnahme gerade nicht hatte und man sich letztlich auf den Ausschluss eines Pneumothorax als einer typischen „Fehllage“ beschränkt hatte.
Ein weiterer Behandlungsfehler liegt zur Überzeugung des Senats in der postoperativen (zwischen 16:15 Uhr und 19:00 Uhr) weit überdosierten Sedierung der Klägerin mit Sufentanil (die neben der Propofolgabe erfolgt ist). Diesen Behandlungsfehler bewertet der Senat als grob. Insofern kann zwar eine neurotoxische Wirkung und damit direkte Mitwirkung an der Querschnittslähmung sowie eine sonstige unmittelbare Schädigung der Klägerin ausgeschlossen werden, die übermäßige Sedierung hat aber die Kontrolle ihres neurologischen Status jedenfalls um 19:00 Uhr und um 21:00 Uhr, letztlich wohl sogar bis 23:00 Uhr beeinträchtigt. Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen überzeugen den Senat, einschließlich dessen Bewertung, dass insoweit ein grober Behandlungsfehler vorliegt.
Der Senat hält schließlich an der Beurteilung fest, dass einerseits die Orthopäden im Haus der Beklagten zu 1) es grob fehlerhaft unterlassen haben, die von 1:55 Uhr bis 2:15 Uhr erstellten CT-Aufnahmen auszuwerten bzw. diese grob fehlerhaft falsch befundet haben, soweit der fehlplatzierte ZVK übersehen wurde, und andererseits auch der als Teleradiologe die ihm übermittelten Aufnahmen grob fehlerhaft falsch befundet hat.
Durch die erlittene Querschnittslähmung ist die zum Operationszeitpunkt erst 14-jährige Klägerin in ihrem gesamten derzeitigen und zukünftigen Leben in schwerster Art beeinträchtigt. Sie ist zu einer eigenständigen und selbstbestimmten Lebensführung dauerhaft nicht in der Lage und wird ihr Leben lang Tag und Nacht auf ständige fremde Hilfe auch in intimsten Bereichen angewiesen sein. Dass sie immer wieder mit Schmerzen und erheblichen Ängsten bis hin zur Todesangst durch Ersticken zu kämpfen hat, liegt allein schon wegen der Beatmungsnotwendigkeit auf der Hand.
Klägerin ist sich ihrer verlorenen Lebensperspektive bewusst
Eine auch nur ansatzweise „normale“ Lebensplanung mit beruflicher Tätigkeit, mit der sie selbst ihren Lebensunterhalt verdienen könnte, mit Finden eines Partners und etwaiger Gründung einer Familie, wie sie „Gesunden“ und auch körperlich weniger gravierend beeinträchtigten Personen selbstverständlich erscheint, wird der Klägerin voraussichtlich verschlossen bleiben. Dabei ist sie sich ihrer jetzigen Hilflosigkeit und der schon in jungen Jahren verlorenen Lebensperspektive, die sie trotz ihrer Grunderkrankung sowohl vor der Operation hatte, als auch – das ist der entscheidende Vergleichsmaßstab – bei einer erfolgreichen Operation gehabt hätte, voll bewusst. Bei aller Tapferkeit, die sie im Umgang mit ihren Beeinträchtigungen zeigt, leidet die Klägerin schwer an diesem Schicksal. Dem Senat ist bewusst, dass auch noch schwerere, etwa auch die Sinne und geistigen Fähigkeiten erfassende Beeinträchtigungen, als die der Klägerin denkbar sind, und im Einzelfall auch vorkommen (man denke nur an manche Geburtsschadensfälle).
Ebenso berücksichtigt der Senat, dass die Klägerin auch bei erfolgreicher Aufrichtungsoperation und aufgrund ihrer Vorerkrankung kein „völlig gesundes“ Leben hätte führen können. Im Rahmen eines solchen Gefüges hält der Senat im vorliegenden Fall einen Schmerzensgeldbetrag von 500.000 € für sachgerecht. Dafür war neben den oben bereits dargestellten Erwägungen mit von Bedeutung, dass der Senat der Auffassung zuneigt, dass das Schmerzensgeld in Fällen der Arzthaftung aufgrund Behandlungsfehlern auch bei dadurch verursachten allerschwersten Beeinträchtigungen eine „Schallgrenze“ von (derzeit) 600.000 € nicht überschreiten sollte, auch im Hinblick darauf, das Haftungsrisiko in diesem Bereich überhaupt noch kalkulierbar und versicherbar zu halten.
Das Schmerzensgeld tritt neben die in solchen Fällen regelmäßig ebenfalls sehr hohen materiellen Ansprüche für Pflegekosten, Verdienstausfall, Haushaltsführungsschaden, sonstige vermehrte Bedürfnisse u. w. m.
Schmerzensgeld bleibt symbolischer „Ausgleich“
Durch Geld kompensierbar sind derartige Schwerstbeeinträchtigungen, durch die das Leben der Betroffenen weitgehend zerstört ist, ohnehin nicht. Zu meinen, man könne rational bemessen, ob nun ein Geldwert von 500.000 €, 700.000 € oder auch 800.000 € einen angemessenen „Ausgleich“ für ein derart zerstörtes Leben darstellt, oder man könne hier mehr als nur grobe Abgrenzungen hinsichtlich des Grades der Schwerstbeeinträchtigung treffen, hält der Senat für anmaßend.
Das Schmerzensgeld wird in solchen Fällen am Ende immer ein letztlich symbolischer „Ausgleich“ bleiben. Da vorliegend der Dauerschaden der Klägerin noch einen gewissen Abstand zu den denkbar schwersten Beeinträchtigungen hat und sie gesundheitlich vorbelastet war, erscheint im vorliegenden Fall in der Gesamtbetrachtung die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes von 500.000 € als „billige Entschädigung“ angemessen.