Schmerzensgeld Blasentumor

OLG Frankfurt, Urteil vom 10. September 2019 – 8 U 43/17 – juris

BGB § 253, § 199 Abs. 1 Nr. 2

In Arzthaftungssachen ist bei der Prüfung, ob grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorliegt, zu Gunsten des Patienten zu berücksichtigen, dass dieser nicht ohne Weiteres aus einer Verletzungshandlung, die zu einem Schaden geführt hat, auf einen schuldhaften Behandlungsfehler zu schließen braucht.

Fall:

Die Klägerin machte teilweise für sich und teilweise für die aus ihr und ihrem Sohn bestehende Erbengemeinschaft Schadensersatzansprüche wegen einer ärztlichen Falschbehandlung geltend.

Der Patient, der Ehemann der Klägerin, war seit vielen Jahren bei dem Beklagten zu 1, einem Urologen, in Behandlung und suchte diesen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen auf. Der Patient verstarb im Jahr 2011. Die Klägerin und ihr Sohn sind dessen Erben.

Im Sommer 2005 klagte der Patient über Blut im Urin. Per Ultraschall wurde durch den Beklagten zu 1 eine vergrößerte Prostata festgestellt, aber ein Prostata-Karzinom ausgeschlossen. Nach einer Radtour im Sommer 2006 teilte der Patient dem Beklagten zu 1 im Rahmen einer weiteren Vorsorgeuntersuchung mit, dass er selbst wieder Blut im Urin festgestellt habe. Lediglich die vergrößerte Prostata wurde durch Ultraschall diagnostiziert. Eine weitere Diagnose wurde nicht gestellt. Auch sonst erfolgten keine weiteren Untersuchungen, die über die üblichen Vorsorgeuntersuchungen hinausgingen und der Abklärung der Ursache für Blut im Urin gegolten hätten.

Die Vorsorgeuntersuchung des Folgejahres fand am 5. Juli 2007 statt. Die Beschwerden gelegentlichen Blutes im Urin traten weiterhin auf. Zudem gingen nach dem Urinieren regelmäßig kleine Blutkoagel mit Schleim ab. Auch medikamentös konnte keine Besserung erzielt werden.

Im Jahr 2008 bestanden die Beschwerden weiterhin. In der jährlichen Vorsorgeuntersuchung am 5. Juni 2008 teilte der Patient dem Beklagten zu 1 dies erneut mit, so dass am 19. Juni 2008 erstmals eine Zystoskopie (Blasenspiegelung) mit einem sog. starren Instrument durch den Beklagten zu 1 vorgenommen wurde, die ohne Befund blieb.

Auch im Jahr 2009 suchte der Patient den Beklagten zu 1 wieder zu Vorsorgeuntersuchungen auf, unter anderem am 9. April 2009. Nachdem am 9. Juli 2009 wieder kein Grund für die weiterhin anhaltenden Beschwerden gefunden wurde, erfolgte am 23. Juli 2009 eine erneute Blasenspiegelung, die jedoch wieder ohne Befund blieb.

Patient klagt wiederholt über Beschwerden

Da weiterhin Blut im Urin vorhanden war, suchte der Patient den Beklagten zu 1 am 6. August 2009 erneut auf. Daraufhin führte dieser eine Ultraschalluntersuchung der Blase und der Nieren durch, die jedoch wieder ohne Befund blieb. Der Beklagte zu 1 veranlasste ein MRT, das am 13. August 2009 durch den vormaligen Beklagten zu 2 – einen Radiologen – durchgeführt wurde. Außer einer nebenbefundlichen Hüftgelenksarthrose stellte dieser jedoch keine Diagnose. Der Beklagte zu 1 führte die latent anhaltenden Beschwerden des Patienten auf die Einnahme von Diclofenac und Voltaren zurück.

Blasentumor wird in Orthopädischer Klinik entdeckt

Am 15. September 2009 begab sich der Patient in eine Orthopädische Klinik, wo ihm am nächsten Tag ein neues Hüftgelenk implantiert wurde. Während des Klinikaufenthaltes kam es am 2. Oktober 2009 aufgrund unklarer Blutungen zu einem Harnverhalt bei Blasentamponade und dadurch zu schmerzhaften Koliken. Daher wurde der Patient noch am selben Tag in der Ambulanz der Urologie eines Klinikums vorgestellt. Bei endoskopischen Untersuchungen fand sich dabei ein großer, sich über die gesamte Breite erstreckender, die rechte Seite und das Blasendach infiltrierender Tumor der Harnblase, welcher bis in die Prostata hineingewachsen war. Es handelte sich um einen bösartigen Blasentumor in einem sehr fortgeschrittenen Stadium. Am 18. November 2009 wurden die Blase, die Prostata und ein Stück Darm entfernt und eine künstliche Blase gebildet. Nach erneuten Komplikationen, die hauptsächlich stationär behandelt wurden, wurde im Juli 2011 ein Rezidiv des Tumors festgestellt. Es wurde eine Chemotherapie durchgeführt, die wegen einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes des Patienten jedoch abgebrochen werden musste. Der Patient konnte nur noch palliativ behandelt werden und verstarb noch im Verlauf des Jahres 2011.

Nach Einholung mehrerer Gutachten hat das Landgericht den Beklagten zu 1 verurteilt, an die Erbengemeinschaft materiellen Schadensersatz und ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 € nebst Zinsen zu zahlen.

Rechtliche Beurteilung:

Die Berufung des Beklagten zu 1 hatte keinen Erfolg. Das Berufungsgericht begründete dies im Wesentlichen wie folgt:

Dem Beklagten ist zumindest dadurch ein grober Befunderhebungsfehler unterlaufen, dass er auch nach dem Ablauf von sechs Monaten nach der Untersuchung vom 19. Juni 2008 keine weitergehenden Untersuchungen vorgenommen hat, um die Ursache für das immer wieder bei dem Patienten auftretende Blut im Urin herauszufinden. Das Vorliegen dieses groben Befunderhebungsfehlers führt hier zu einer Beweislastumkehr in Bezug auf die Kausalität zwischen Fehler und Gesundheitsschaden.

Die Höhe des durch das Landgericht festgesetzten Schmerzensgeldes von 100.000 € ist nicht zu beanstanden. Für die Höhe des Schmerzensgeldes ist primär das Ausmaß der konkreten Beeinträchtigungen maßgebend, wobei an die Funktionen des Schmerzensgeldes anzuknüpfen ist, die wegen der Unmöglichkeit der tatsächlichen Wiedergutmachung in einem Ausgleich der Lebensbeeinträchtigung, des Weiteren auch in einer Genugtuung für das zugefügte Leid bestehen. Die außergewöhnlich ausführliche Begründung des Landgerichts benennt die relevanten Parameter und gewichtet diese zutreffend. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Erwägungen des Landgerichts des angegriffenen Urteils Bezug genommen.

Urteilsbegründung

Das Landgericht hatte in seinem Urteil die Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes im Wesentlichen wie folgt begründet: Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei zu beachten, dass sich der Patient auch bei einem behandlungsfehlerfreien Erkennen des Blasenkarzinoms einer Operation (nämlich zu dessen Entfernung) hätte unterziehen müssen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei aber nicht bewiesen, dass auch bei dieser Operation die gesamte Blase, die Prostata und ein Stück des Darms hätten entfernt werden müssen.

Bei früherer Diagnose hätte reelle Chance auf Heilung bestanden

Der Sachverständige habe in seinem Ergänzungsgutachten dazu ausgeführt, dass nicht zu klären sei, wann das Karzinom entstanden sei, und dass bei Erkennen des Karzinoms bei der ersten Spiegelung im Jahr 2008 eine reelle Chance bestanden hätte, den Tumor durch die Harnröhre zu entfernen und die Blase zu erhalten. Wenn der Tumor erst ca. drei Monate vor der eigentlichen Diagnosestellung hätte entdeckt werden können, hätte man auch die Harnblase entfernen müssen.

Diese Unklarheit gehe wegen der aufgrund des Befunderhebungsfehlers gegebenen Beweislastverteilung zu Lasten des Beklagten zu 1, so dass die operative Entfernung der gesamten Blase, der Prostata und eines Stücks des Darms am 18. November 2009 bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen sei. Ebenfalls zu beachten sei, dass nach 19 Tagen der Katheter aus der Blase entfernt worden und eine Harninkontinenz verblieben sei, so dass mit einem Beckenbodentraining unter physiotherapeutischer Anleitung sowie einer Medikation gegen Inkontinenz begonnen worden sei.

Beides habe nach der Entlassung des Patienten am 9. Dezember 2009 ambulant weitergeführt werden müssen. Zur Wiedererlangung der Kontinenz ab dem 18. Januar 2010 seien insgesamt 40 einstündige Behandlungen in der physiotherapeutischen Praxis erfolgt.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes seien die Blasentamponaden und die dadurch verursachten schmerzhaften Koliken sowie das Ausräumen der Blasentamponade unter Vollnarkose am 5. und am 7. Oktober 2009 zu berücksichtigen. Ferner müsse Berücksichtigung finden, dass der Patient vom 11. bis zum 17. Dezember 2009 wegen eines Nierenversagens wieder notfallmäßig in der Urologie des Universitätsklinikums aufgenommen und nach Anlage eines Katheters in der Niere und medikamentöser Behandlung wieder entlassen worden sei.

Auch die im Jahr 2011 aufgetretene Tumorerkrankung, welche letztlich zum Tod des Patienten geführt habe, sei zu berücksichtigen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen habe es sich bei den späteren Tumorerkrankungen zweifelsfrei um Rezidive gehandelt. Auch die umfangreichen Behandlungen und schweren gesundheitlichen Folgen ab Mai 2009 bis zum Tod seien „in vollem Umfang bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen“, wobei insbesondere die stationären Klinikaufenthalte, die Chemotherapien und das leidvolle Versterben hervorzuheben seien.

Außerdem sei auch die mit einer Krebserkrankung verbundene besondere psychische Belastung des Patienten zu beachten gewesen. Insbesondere habe sich der Patient nach dem erneuten Auftreten der Krebserkrankung im Mai 2011 darauf einstellen müssen zu versterben.

Berufungsgericht verneint Verjährung der Ansprüche

Das Berufungsgericht hat auch eine Verjährung der streitgegenständlichen Ansprüche verneint und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

Es kann keine Rede davon sein, dass eine grob fahrlässige Unkenntnis des Verstorbenen im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorgelegen hat. Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

Es besteht für den Gläubiger keine generelle Obliegenheit, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. In Arzthaftungssachen ist bei der Prüfung, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, zu Gunsten des Patienten zu berücksichtigen, dass dieser nicht ohne Weiteres aus einer Verletzungshandlung, die zu einem Schaden geführt hat, auf einen schuldhaften Behandlungsfehler zu schließen braucht. Deshalb führt allein der negative Ausgang einer Behandlung ohne weitere sich aufdrängende Anhaltspunkte für ein behandlungsfehlerhaftes Geschehen nicht dazu, dass der Patient zur Vermeidung der Verjährung seiner Ansprüche Initiative zur Aufklärung des Behandlungsgeschehens entfalten müsste.

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