Zerstörung der Persönlichkeit

OLG Frankfurt a. M. vom 05.04.2018 – 2 U 65/17

Für eine weitestgehende Zerstörung der Persönlichkeit eines knapp zwei Jahre alten Kindes kann ein Schmerzensgeld von 500.000 € angemessen sein.

Fall:

Die Klägerin nahm den beklagten Landkreis als Träger des Notfallrettungsdienstes auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht aller künftigen materiellen und nicht absehbaren immateriellen Schäden, die im Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht fehlerhaften Behandlung standen.

Die am 25.01.2007 geborene Klägerin litt seit ihrer Geburt an einer schweren Herzerkrankung, einem hypoplastischen Linksherzsyndrom  mit Rechtsverlagerung und einer rechtsseitigen Lungenhypoplasie.

Am Morgen des 03.12.2008 war die Klägerin somnolent und leicht zyanotisch. Die alarmierten Rettungssanitäter, die im Auftrag der XY Rettungsdienst GmbH für den Beklagten tätig waren, legten der Klägerin ein EKG an und maßen ihren Blutdruck. Kurze Zeit später erschien der im Notarztdienst des Beklagten eingesetzte Notarzt, der eine Verdachtsdiagnose (Krampfanfall) stellte und die Einlieferung der Klägerin in das Universitätsklinikum Frankfurt anordnete. Die Klägerin wurde sodann mit Sondersignal (Blaulicht) ohne Begleitung des Notarztes von den Rettungssanitätern nach Frankfurt transportiert. Die Blutzuckerwerte der Klägerin wurden weder anlässlich der Untersuchung durch den Notarzt noch während der Fahrt gemessen.

Im Universitätsklinikum Frankfurt wurde die Klägerin zunächst notfallmäßig medikamentös mit Diazepam und dann mit Phenobarbital behandelt. Die abgenommenen Laborwerte zeigten eine starke Unterzuckerung, welche durch Glukosegabe rasch therapiert werden konnte. Weitere Untersuchungen (MRT unter Intubation) erfolgten am gleichen Tag.

Herz-Kreislaufstillstand nach Narkose und Intubation

Im Verlauf der pädiatrischen Intensivbehandlung kam es bei der Klägerin zu Sauerstoffsättigungsabfällen, weshalb die Klägerin am 04.12.2018. von Frankfurt aus zu einer Herzkatheteruntersuchung in die Kinderklinik Gießen verlegt werden sollte. Dort war sie bereits in der Vergangenheit behandelt worden. Zur Vorbereitung des Transports entschloss man sich zur Narkose und Intubation der Klägerin. Bei dieser Narkoseeinleitung trat bei der Klägerin ein Herz-Kreislaufstillstand ein, der zu ca. 30-minütigen Reanimationsmaßnahmen führte. Die Reanimation der Klägerin gelang, hatte jedoch indes hypoxische Hirnschäden zur Folge.

Am 23.12.2008 wurde die Klägerin in die Klinik nach Gießen gebracht, wo ihr am 08.01. 2009 ein Herzschrittmacher implantiert wurde. In der Klinik in Gießen wurde die Klägerin am 19.01.2009 erneut reanimationsbedürftig, mit der Folge weiterer hypoxischer Hirnschädigungen.

Schwere Folgen der mehrfachen Hirnschädigungen

Die Klägerin leidet infolge der eingetretenen schweren hypoxischen Hirnschäden an einer Tetraspastik, Sprachverlust und anhaltenden Bewusstseinsstörungen. Die Kontrolle über Kopf und Rumpf ist kaum noch vorhanden, weswegen die Klägerin auch nicht sitzen kann. Sie muss über eine Magensonde ernährt werden. Die Klägerin ist insgesamt pflegebedürftig und auf ständige Hilfe angewiesen. Eine Verbesserung dieses Zustandes ist nicht zu erwarten.

Das Landgericht Darmstadt hat die Klage abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung:

Die zulässige Berufung der Klägerin hatte Erfolg. Das Berufungsgericht hat der Klage unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Darmstadt im Wesentlichen stattgegeben. Das OLG hat hierzu insbesondere ausgeführt:

Die Klägerin hat gegen den Beklagten wegen des Vorliegens eines groben Behandlungsfehlers sowohl einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes als auch auf Feststellung, dass zukünftig entstehende materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden durch den Beklagten zu ersetzen sind, §§ 280, 823, 249 ff., 253 BGB. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 500.000 € nebst Zinsen zu.

Notarzt beging groben Befunderhebungs- und Behandlungsfehler

Das Landgericht ist nach der durchgeführten Beweisaufnahme zu Recht vom Vorliegen eines groben Befunderhebungs- und Behandlungsfehlers ausgegangen. Weil angesichts des bewusstseinsgetrübten Zustandes der Klägerin ihr Blutzucker nicht bestimmt worden ist und der Notarzt trotz des anhaltenden Anfalls bzw. der Gefahr des Auftretens eines weiteren Anfalls nicht im Rettungswagen mitgefahren ist. Das Risiko der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs zwischen Behandlungsfehler und Primärschaden bzw. typischem Folgeschaden trifft den beweisbelasteten Beklagten.

Junges Alter der Klägerin als besonderes Bemessungskriterium

Der Senat erachtet ein Schmerzensgeld von 500.000 € für gerechtfertigt. Der Senat hat bei der Bewertung der erlittenen Schäden der Klägerin insbesondere berücksichtigt, dass die Klägerin nie mehr ein eigenständiges Leben wird führen können und schon bei den einfachsten Anforderungen des Lebens ununterbrochen auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die Klägerin wird ihr Leben lang an den erlittenen geistigen und körperlichen Schäden leiden, wodurch ihr jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben genommen und ihre Persönlichkeit weitgehend zerstört worden ist. Ein besonderes Bemessungskriterium ist zudem das Alter der Klägerin. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des fehlerhaften Notarzteinsatzes knapp zwei Jahre alt; ihre Lebensperspektive ist infolge ihrer körperlichen Behinderung und der schweren globalen Entwicklungsstörung vollständig zerstört. Unter Berücksichtigung aller Umstände erscheint ein Schmerzensgeld von 500.000 € notwendig, aber auch angemessen. Dies ergibt sich auch unter Berücksichtigung vergleichbarer Entscheidungen.

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