
OLG Braunschweig, Urteil vom 28. Februar 2019 – 9 U 129/15 – juris
- 253 BGB
- Ist ein Arzt wegen eines Behandlungsfehlers zum Schadensersatz verpflichtet, ist es ihm zwar nicht grundsätzlich verwehrt, sich auf ein Mitverschulden des Patienten zu berufen. Bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten ist allerdings Zurückhaltung geboten.
- Im Allgemeinen obliegt es zwar dem Patienten, grundsätzlich einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dies nahelegt. Es hängt indes von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wann die Nicht-Konsultation eines Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.
- Treten bei dem Patienten erneut Symptome (hier: Darmblutungen) auf, für die aufgrund der vorangegangenen, auf unzureichender Befunderhebung basierenden Diagnose des Arztes dem Patienten Erklärungen (hier: Hämorrhoiden und Analfissur) genannt wurden, die keine zeitnahe Wiedervorstellung nahelegen, so stellt es keinen ein Mitverschulden begründenden Sorgfaltsverstoß dar, wenn sich der Patient beim Wiederauftreten der Symptome nicht sofort wieder in Behandlung begibt. Vielmehr darf der Patient insoweit zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass keine ernsthafte Erkrankung (hier: Darmkrebs) vorliegt.
- Ist einem Arzt durch schuldhaftes Unterlassen der gebotenen Befunderhebung nach dem Grundsatz des groben Behandlungsfehlers zuzurechnen, dass eine an Darmkrebs erkrankte 47-jährige Patientin nach viereinhalb Jahren Überlebenszeit mit zahlreichen belastenden Therapien und Operationen verstorben ist, indem ihr die Chance auf eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von vier bis fünf Monaten mit vollständiger Genesung genommen wurde, so ist die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 70.000 € angemessen und keinesfalls überhöht.
Fall:
Die Klägerinnen machten als Erbinnen nach der verstorbenen, ehemaligen Klägerin (nachfolgend: Erblasserin) gegen den Beklagten als behandelnden Arzt Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers im Zusammenhang mit einer Behandlung der Erblasserin ab dem 31.08.2007 geltend.
Die Erblasserin stellte sich nach Überweisung des Internisten Dr. S. am 31.08.2007 wegen zum Teil spritzender Blutungen aus dem Anus beim Beklagten vor, der Hämorrhoiden und eine Analfissur diagnostizierte und behandelte. Eine erneute Vorstellung erfolgte am 09.10.2007. Eine Darmspiegelung (Koloskopie) oder eine Mastdarmspiegelung (Rektoskopie) wurden von dem Beklagten nicht veranlasst. Auf das Schreiben vom 11.10.2007 an den überweisenden Arzt Dr. S., in dem der Beklagte mitteilte, dass bei Beschwerdefreiheit zunächst keine weiteren Sitzungen geplant seien und eine ergänzende hohe Koloskopie nicht zwingend erforderlich sei, wird Bezug genommen.
Vom 13.05.2008 bis zum 15.05.2008 befand sich die Erblasserin in stationärer Behandlung im Klinikum. Das Klinikum diagnostizierte Darmkrebs bei der Erblasserin, der bereits in die Leber metastasiert hatte. Im vorläufigen Entlassungsbrief vom 15.05.2008 heißt es zur Anamnese und zum Aufnahmegrund: „Die Patientin berichtet von seit ca. sechs Monaten bestehenden Diarrhoen (ca. sechs bis sieben Mal täglich) mit hellroten Blutauflagerungen sowie ausgeprägtem Meteorismus. Darüber hinaus habe sie seit ca. sechs Monaten eine zunehmende Müdigkeit und Schlappheit bemerkt.“ Die Erblasserin musste sich in der Folgezeit zahlreichen Behandlungen (u. a. Operationen, mehreren Chemotherapien) unterziehen.
Landgericht hält Schmerzensgeld von 70.000 Euro für ausreichend
Die Erblasserin nahm wegen der unterbliebenen Darmspiegelung einen groben Behandlungsfehler des Beklagten an und behauptete, dass bei Durchführung der Darmspiegelung der Tumor früher erkannt und seine Vergrößerung sowie die Metastasenbildung verhindert worden wären. Nach erfolgloser außergerichtlicher Aufforderung hat sie im Dezember 2011 Klage erhoben. Am 13.12.2012 verstarb die Erblasserin an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Sie ist von den Klägerinnen beerbt worden, die den Rechtsstreit aufgenommen haben.
Das Landgericht hat unter Bezugnahme anderer gerichtlicher Entscheidungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 € für erforderlich, aber auch ausreichend angesehen. Dabei hat es insbesondere das Alter der Erblasserin (1960 geboren, d. h. im Zeitpunkt des Befunderhebungsfehlers 47 Jahre) und die wiederholten Chemotherapien mit einem sich immer weiter verschlimmernden Krankheitsbild berücksichtigt. Das Landgericht hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch zugrunde gelegt, dass davon auszugehen sei, dass sich die Erblasserin einer belastenden zweimaligen Chemotherapie nebst Operation und Bestrahlung auch bei Diagnose der Erkrankung bereits im August 2007 hätte unterziehen müssen.
Rechtliche Beurteilung:
Die zulässige Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg. Das OLG hat insbesondere ausgeführt:
Rechtsfehlerfrei – und mit der Berufung auch nicht angegriffen – hat das Landgericht einen Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers angenommen, indem es der Beklagte am 31.08.2007 unterlassen hat, bei der Erblasserin eine Rektoskopie durchzuführen, welche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte und das Nichtreagieren auf diesen Befund ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre. Ebenso zutreffend hat Landgericht festgestellt, dass aus diesem groben ärztlichen Fehler eine Beweislastumkehr folgt, die sich auf das Fortschreiten des Tumors, auf die Metastasierung und auf das Versterben der Erblasserin bezieht. Auch nach der in der Berufungsinstanz durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme ist es dem Beklagten nicht gelungen, den ihm – aufgrund der Beweislastumkehr – obliegenden Beweis zu führen, dass die um neun Monate verspätete Diagnose nicht oder auch nur teilweise nicht für den weiteren Krankheitsverlauf der Erblasserin ursächlich geworden ist.
Grundsätzlich kann sich zwar auch der Arzt gegenüber dem Patienten, der ihn wegen fehlerhafter Behandlung und Beratung in Anspruch nimmt, darauf berufen, dass dieser den Schaden durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten mitverursacht hat. Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Der Schaden wird durch das Mitverschulden nur berührt, wenn er vom Schutzbereich der den Geschädigten treffenden Obliegenheiten erfasst ist.
Patientin durfte zunächst darauf vertrauen, dass keine ernste Erkrankung vorliegt
Das ist nur der Fall, wenn die in der Situation des Geschädigten konkret von ihm geforderte Mitwirkungspflicht gerade die Vermeidung des eingetretenen Schadens bezweckt. Grundsätzlich ist bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten allerdings Zurückhaltung geboten. Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann der Erblasserin ein Mitverschulden nicht angelastet werden. Dabei ist insbesondere zu Gunsten der Erblasserin zu berücksichtigen, dass sie zuvor bei dem Beklagten wegen ihrer rektalen Blutungen abschließend behandelt worden ist und hierfür die Diagnose „Verursachung durch Hämorrhoiden und Analfissur“ erhalten hat. Insoweit konnte und durfte die Erblasserin zumindest eine Zeit lang darauf vertrauen, dass im Hinblick auf ihren Darm keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000€ ist unter Berücksichtigung des Ergebnisses der ergänzenden Beweisaufnahme des Senates angemessen, erforderlich und keinesfalls überhöht.
Bei frühzeitiger Diagnose der Krebserkrankung im August 2007 hätte sich die Erblasserin – ausgehend von der Beweislastverteilung und den Ergebnissen der Beweisaufnahme – lediglich einer Tumorresektion unterziehen müssen und wäre bei optimalem Verlauf spätestens im Dezember 2007/Januar 2008 wieder arbeitsfähig gewesen. Die Erblasserin hätte sich nicht den zahlreichen Behandlungen und Therapien über einen Zeitraum von viereinhalb Jahren unterziehen müssen, wobei insbesondere die mehrfachen Chemotherapien und die operative Entfernung der Eileiter, Eierstöcke sowie des Blinddarms hervorzuheben sind. Die (damals) 47-jährige Erblasserin hätte zudem eine aussichtsreiche Chance auf vollständige Heilung und vor allem eine sehr gute Überlebensprognose gehabt.
Stattdessen war die der Erblasserin aufgrund der Diagnoseverzögerung verbleibende Überlebenszeit von vierienhalb Jahren geprägt von zahlreichen und schwerwiegenden Behandlung und Therapien mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen, einem sich weiter verschlimmerten Krankheitsbild und der Gewissheit, dass keine Chance auf Heilung besteht und sie versterben wird.
Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 € ist – insbesondere im Hinblick auf die Ergebnisse der ergänzenden Beweisaufnahme – erforderlich, um die durch die Verschlimmerung der Krebserkrankung hervorgerufenen Folgen und Belastungen auszugleichen. Insoweit kann auch auf die vor dem Landgericht zitierten Entscheidungen in der Schmerzensgeldtabelle von Hacks/Wellner/Häcker Bezug genommen werden.