LG Aurich, Urteil vom 23.11.2018 – 2 O 165/12, VERSR 2019, 887

BGB § 249, § 253

800.000 € Schmerzensgeld

Orientierungssatz juris:
Hat ein Geschädigter aufgrund einer bakteriellen Meningitis schwerste körperliche Beeinträchtigungen erlitten, wird er sein gesamtes Leben lang körperlich schwerstbehindert bleiben und bestehen auch psychische Auffälligkeiten als Teil einer Traumafolgenstörung, die den körperlichen Schädigungen und darauf beruhenden Behandlungsmaßnahmen kausal zuzuordnen sind, kann, wenn das Vorgehen des für den Geschädigten zuständigen Krankenpflegers einen groben Behandlungsfehler darstellt und es sich um einen extremen Ausnahmefall in der Person eines zum Schädigungszeitpunkt gerade erst fünf jährigen Jungen handelt, ein Schmerzensgeld von insgesamt 800.000 € zuzusprechen sein.

Fall:

Der 2006 geborene Kläger nahm die Beklagte wegen ärztlicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer stationären Behandlung im Jahr 2011 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Hause der Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch.Unter hohem Fieber und Schüttelfrost
leidend, war der Kläger mit dem Rettungsdienst in das Krankenhaus der Beklagten eingeliefert worden. Nachdem der Verdacht auf eine Meningokokkensepsis geäußert und eine Notfallversorgung begonnen worden war, bestätigte sich im Labor der Verdacht einer bakteriellen Meningitis.

In Begleitung eines Intensiv-Teams überführte man den Kläger in dokumentiert schlechtem Allgemeinzustand, mit multiplen blau-schwarzen Hautnekrosen am ganzen Körper und im Gesicht, bei schwerer Bewusstseinstrübung, unklarer Sprache und fehlender Orientierung mit dem Rettungswagen in das Klinikum O. Nach Stabilisierung seines Zustandes dort wurde der Kläger wegen zahlreicher Hautnekrosen sowie Gangrän an beiden Unterschenkeln zum Zwecke einer plastisch-chirurgischen Versorgung in das Katholische Kinderkrankenhaus W. in H. verlegt.

Amputation beider Unterschenkel

Die eingetretenen Nekrosen wurden dort zunächst durch Abtragung und Epigard-Deckung versorgt. Schließlich mussten beide Unterschenkel des Klägers unterhalb der Knie amputiert werden. Zeitversetzt folgten mehrfache Muskellappen- und Spalthauttransplantationen im Gesicht, an den Armen sowie an den Oberschenkeln, wobei die Spalthauthierfür am Thorax und am Rücken entnommen wurde. Die Deckung des rechten Knies erfolgte mit Spalthaut von der Innenseite des linken Oberarms. Nach Entlassung aus dem Kinderkrankenhaus W. wurde der Kläger von der Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation in M. übernommen. Im August 2011 musste sich der Kläger einer plastisch-chirurgischen Revision beider Amputationsstümpfe im Klinikum W. unterziehen. Jedenfalls vorübergehend war er gezwungen, einen Ganzkörperkompressionsanzug sowie eine Kopf- und Gesichtsmaske zu tragen, um einer wulstigen Narbenbildung entgegenzuwirken, sowie an beiden Beinstümpfen eine künstliche Streckung der Kniegelenke mittels Schienen vornehmen zu lassen.

Rechtliche Beurteilung:

Das LG hielt nach ergänzender Sachverständigenbeweisaufnahme zu den auf die fehlerhafte Behandlung zurückzuführenden Folgen in der Person des Klägers ein Schmerzensgeld in Höhe der geäußerten Mindestbetragsvorstellung von 800.000 € für angemessen, um den Kläger für die erlittenen vielfältigen Beeinträchtigungen, unter denen er sein ganzes Leben lang wird leiden müssen und die er jeden Tag aufs Neue bewusst erlebt, in Geld zu entschädigen. Nach Auffassung des LG waren dafür u. a. folgende Gesichtspunkte maßgebend:

Schwerste körperliche Beeinträchtigung und Hautentstellungen

Durch den Verlust beider Unterschenkel jeweils knapp unter dem Kniegelenk und die Notwendigkeit von Muskellappentransplantationen sowie wiederholter, großflächiger Spalthauttransplantationen von Thorax und Rücken stammend im Gesicht, an den Armen und beiden Oberschenkeln sowie beiden Kniegelenken hat der Kläger schwerste körperliche Beeinträchtigungen erlitten und wird sein gesamtes Leben lang körperlich schwerstbehindert bleiben. Die Wangen beider Gesichtshälften sind durch die ausgedehnten Weichteilschäden, die auf die verspätete Behandlung der Meningokokkensepsis im Hause der Beklagten zurückzuführen sind, sowie die nachfolgenden Transplantationen entstellt. Dasselbe gilt für die oberen Extremitäten sowie die Oberschenkel- und Kniegelenksbereiche, die keloidartige großflächige Hautentstellungen zeigen und bei denen der Anteil transplantierter Hautareale die Fläche der hiervon nicht betroffenen Körperoberfläche deutlich überschreitet. An beiden Armen, rechts stärker als links, sowie den unteren Extremitäten bestehen infolge der Haut- und Gewebenekrosen ausgedehnte narbige Bezirke mit Verwachsungen.

Bereits die Vielzahl operativer Eingriffe, die stets mit stationären Aufenthalten im Krankenhaus verbunden waren und notwendigerweise sowohl an der Entnahmestelle als auch am jeweiligen Zielort des Transplantats erfolgen mussten, stellte für einen Jungen im Vor- und Grundschulalter eine nicht zu unterschätzende Last dar. Hinzu trat die psychische Belastung durch die stets vorhandene Befürchtung, auch und gerade aus kindlicher Sicht, es könnte auch mit diesem Eingriff noch nicht „gut“ sein, sondern es könnten sich immer noch weitere Transplantationen oder sonstige Revisionseingriffe anschließen.

Langfristige Verbesserung der Gehfähigkeit zweifelhaft

Im Hinblick auf die Amputationsstümpfe ist Letzteres wiederholt der Fall gewesen und es steht weiterhin zu befürchten, dass es hier mit fortschreitendem Wachstum des Klägers zu wiederholten Revisionsoperationen an Knochen und Weichteilen kommen wird. Ausweislich der Ausführungen der Sachverständigen mit (kinder-) orthopädischem Fachgebiet waren an den Amputationsstümpfen bisher jährliche Nachoperationen notwendig. Im Laufe der Jahre seit 2011 sind wiederholt Prothesen angefertigt worden, die jedoch bislang nicht zu einer zufriedenstellenden prothetischen Versorgung des Klägers geführt haben. Durch die beidseitige Unterschenkelamputation hat der Kläger mithin nicht nur die Gehfähigkeit ohne Hilfsmittel verloren, sondern auch die prothetische Kompensation erweist sich bislang als schwierig. In beiden Oberschenkeln, rechts lediglich ausgeprägter als links, ist es zu einer Muskelatrophie gekommen. Unabhängig davon sind auch die geklagten Phantomschmerzen und Phantomempfindungen medizinisch nachvollziehbar.

Vielzahl körperlicher Einschränkungen

Zudem zeigte sich die rechtsseitige Schultermuskulatur nebst Ober- und Unterarmmuskulatur des Klägers bei der orthopädischen Untersuchung verschmächtigt. Die Bewegungen des rechten Schulter- sowie des rechten Ellenbogengelenks werden als deutlich eingeschränkt beschrieben, darüber hinaus sind das linke Ellenbogengelenk und beide Handgelenke mittelgradig bewegungseingeschränkt. Die vorrangig genutzte rechte Hand ist im Gebrauch nur eingeschränkt dauerbelastbar.

Es kommt zu rezidivierenden Belastungsschmerzen sowohl der Schultergelenke, rechts mehr als links, als auch der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Hüftregion. Die Sachverständige hat es überzeugend als nachvollziehbar bezeichnet, dass es schon jetzt zu Rückenschmerzen und Hüftbeschwerden kommt, wenn sich der Kläger über längere Strecken ohne Prothesen und lediglich auf „Stubbies“ fortbewegt. Das Beugedefizit im rechten Ellenbogengelenk stellt eine im Alltag spürbare Funktionsbeeinträchtigung, etwa bei der Körperpflege, dar, weil es den Kläger daran hindert, bestimmte Partien des Rückens oder der oberen Schulterregion zu erreichen. Schließlich ist auch ein Anheben des rechten Arms im Schultergelenk über die Horizontale hinaus nicht möglich.

Aus pädiatrischer Sicht hat der Hauptgutachter die Behauptung des Klägers bestätigt, dass er aufgrund der ausgedehnten Hautdefekte voraussichtlich sein Leben lang darauf angewiesen sein wird, sich mehrfach täglich einzucremen, um wiederholt auftretenden Entzündungen der Narbenoberfläche nach Möglichkeit vorzubeugen. Dies ist wegen der hochgradigen Zerstörung von Talgdrüsen und Schweißdrüsen sowie der in den betroffenen Hautarealen fehlenden autonomen Regulation erforderlich. Da die großflächig vernarbten Hautareale zudem für eine aktive Regulation der Körpertemperatur nicht mehr zur Verfügung stehen, wird die Körpertemperatur bei dem Kläger durch vermehrtes Schwitzen im Bereich der verbliebenen gesunden Hautareale kompensiert. Soweit im Bereich der Beinstümpfe noch intakte Hautareale vorhanden sind, zeigen auch sie eine deutliche Schwitzneigung, was die prothetische Versorgung weiter erheblich erschwert.

Psychische Folgen

Schließlich hat auch der psychologische Teil des Gutachtens eine Mehrzahl der vorgetragenen psychischen Auffälligkeiten des Klägers bestätigt. Es zeigen sich insoweit abnorme Verhaltensstörungen mit Krankheitswert. Zumindest liegt dem Fachgutachter zufolge bei dem Kläger eine traumatisch bedingte Störung vor, auf die er auch das durch ihn selbst beobachtete vermeidende und negierende Antwortverhalten des Klägers auf Fragen symptomatisch zurückführt.

Gutachten prognostiziert erhebliche lebenslange Einschränkungen

Mit Blick auf die Zukunft ergibt sich aus dem Gutachten zur Überzeugung der Kammer, dass der Kläger in seiner Mobilität für sein Leben lang erheblich eingeschränkt bleiben wird, und zwar selbst dann, wenn die sehr schwierige prothetische Versorgung mit Unterschenkelprothesen einmal gelingen sollte. Auch in diesem Fall wird die Ausdauer des Klägers beim Gehen und Laufen erheblich eingeschränkt sein, nicht nur im Hinblick auf längere Gehstrecken im Außenbereich, sondern auch bei zahlreichen Aktivitäten des alltäglichen Lebens in Innenräumen, insbesondere solchen, die mit einem Positionswechsel verbunden sind.

Selbst unter optimaler Hilfsmittelversorgung hätte der Kläger noch erhebliche Einschränkungen beim Fahrradfahren, Autofahren, Treppensteigen und bei der Sportausübung zu gewärtigen; sollte sich die Versorgung mit Unterschenkelprothesen hingegen dauerhaft als erfolglos erweisen, was nach dem Gutachten durchaus denkbar ist, würden sich die beschriebenen Einschränkungen in der Mobilität, körperlichen Aktivität und damit letztlich der Teilhabe noch weitaus größer darstellen. Zugleich würden sich die hieraus ergebenden gesundheitlichen und psychosozialen Folgestörungen potenzieren.

Aus Sicht des psychologischen Fachgutachters besteht zudem Anlass zu der Befürchtung, dass sich bei dem Kläger ein schwerer Verlauf psychischer Beeinträchtigungen im Laufe seines Lebens und insbesondere in der Pubertät einstellen wird. Der Sachverständige hat für die Kammer überzeugend abgeleitet, dass der Kläger zum Kreis der Betroffenen gehört, bei denen das Risiko der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung im Sinne einer andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) erhöht ist. Dauerhaft ist zudem ernsthaft zu befürchten (und daher auch schon in die Schmerzensgeldbemessung im Rahmen der vorliegenden Entscheidung einzustellen), dass der Kläger in seiner sozialen Kontaktfähigkeit langfristig beeinträchtigt sein wird.

Die erlittenen Schädigungen führen bei dem Kläger zwar nicht unmittelbar zu einer eingeschränkten Lebenserwartung, das Risiko potenziell lebenszeitverkürzender Folgeerkrankungen ist jedoch deutlich erhöht. Zu nennen sind den Sachverständigen zufolge hier ein erhöhtes Risiko für Adipositas, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als mittelbare Folgen der deutlich eingeschränkten Möglichkeiten zu körperlicher Betätigung, ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch infolge chronischer Schmerzzustände, erhebliche psychosoziale Belastungen und das erhöhte Risiko für schwere psychische Erkrankungen.

Extremer Ausnahmefall rechtfertigt Schmerzensgeld von 800.000 €

In der gebotenen Zusammenschau aller genannten Beeinträchtigungen auf körperlichem wie psychischem Gebiet erweist sich nach Überzeugung der Kammer, dass es sich um einen extremen Ausnahmefall in der Person eines zum Schädigungszeitpunkt gerade erst fünfjährigen Jungen handelt, der es nicht nur rechtfertigt, sondern auch gebietet, ein Schmerzensgeld von insgesamt 800.000 € zuzusprechen. Dass der hier zugesprochene Betrag über Schmerzensgeldbeträge hinausgehen mag, die in anderen Fällen des Verlustes beider unterer Extremitäten in vergleichbarem Umfang oder aber bei großflächigen Verbrennungen, die ein ähnliches dauerhaftes äußeres Erscheinungsbild und körperliche Einschränkungen nach sich ziehen, von der Rechtsprechung für angemessen erachtet wurden, ist der Kammer sehr wohl bewusst.

Sie hält die Überschreitung hier allerdings für geboten, weil es in der Person des Klägers zu einer Häufung von Schäden gekommen ist, die nach Art und Umfang ihresgleichen sucht. Dieser Häufung von Beeinträchtigungen hat die Kammer bei der Schmerzensgeldbemessung in erster Linie gerecht zu werden; die von der Beklagten geäußerte Sorge, das Schmerzensgeldgefüge könnte durch eine solche Einzelfallentscheidung durcheinandergebracht werden, wird dabei zwar nicht verkannt, sie hat jedoch hinter dem individuellen Kompensationsinteresse des Klägers als lediglich abstrakter Gesichtspunkt zurückzutreten.

Kontrollüberlegung zur Angemessenheit des Schmerzensgeld

Die Kammer sieht die Angemessenheit des Schmerzensgeldbetrages durch folgende Kontrollüberlegung bestätigt: Berücksichtigt man, dass der Kläger zum Zeitpunkt des erlittenen Schadens rund fünf Jahre alt war, beläuft sich seine restliche Lebenserwartung auf jedenfalls mehr als achtzig Jahre. Für diese Zeitspanne ist damit zu rechnen, dass er in der oben beschriebenen Weise eingeschränkt sein wird. Teilt man nun den gesamten Schmerzensgeldbetrag (eine Schmerzensgeldrente hat der Kläger nicht beantragt) rechnerisch auf die statistische restliche Lebenserwartung des Klägers auf, bleibt für jedes Jahr ein Betrag von unter 10.000 € bzw. ein monatlicher Betrag von rund 800 €. Das erscheint der Kammer angemessen, um dem Kläger im Rahmen des Möglichen eine Genugtuung für den erlittenen Schaden zu verschaffen.

Schmerzensgeldanspruch mit Zustellung der Klageschrift rechtshängig

Die Verzinsung des zugesprochenen Schmerzensgeldbetrages ab Rechtshängigkeit der Klage beruht auf §§ 281 Abs. 1 Satz 2; 291 BGB. Dabei hat die Kammer zugrunde gelegt, dass der zuerkannte Schmerzensgeldbetrag bereits mit Zustellung der Klage rechtshängig geworden ist. Der Umstand, dass die Begründung in der Klageschrift noch von einem Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 350.000 € spricht und die Mindestbetragsvorstellung erst mit dem nach Rechtskraft des Grundurteils eingereichten auf 800.000 € erhöht wurde, steht dem nicht entgegen. Höchstrichterlicher Rechtsprechung zufolge (vgl. BGH, Urteil vom 30.04.1996 – VI ZR 55/95, juris Rn. 34 ff.) zieht die Angabe eines Mindestbetrages dem Ermessen des Gerichts bei Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes im Hinblick auf § 308 ZPO keine Grenze nach oben.

Deshalb ist auch die Zuerkennung eines den Mindestbetrag beispielsweise um das Doppelte übersteigenden Betrages – wie im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – noch vom Klageantrag gedeckt. Eine Begrenzung des gerichtlichen Ermessens nach oben komme hingegen nur dann in Betracht, wenn der Kläger eine Obergrenze angibt und damit erkennen lässt, dass er die Ausübung des Ermessens nur bis zur Höhe des genannten Betrages begehre. Bei Angabe eines Mindestbetrages sei dies jedoch nicht der Fall. Zugleich hat der Bundesgerichtshof weit verbreiteten Überlegungen in der Literatur, den Betrag mittels eines prozentual bestimmten Rahmens von etwa 20 % einzugrenzen, eine Absage erteilt. Das rechtfertigt die dem Zinsausspruch zugrundeliegende Annahme der Kammer, ein Schmerzensgeldanspruch in der zuerkannten Höhe sei bereits mit Zustellung der Klageschrift rechtshängig geworden.

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