Geburtsschaden

OLG Koblenz, Urteil vom 15. Januar 2020 – 5 U 1599/18 – eingereicht von Rechtsanwälten Meinecke & Meinecke, Köln

BGB § 253

Ein schwerer hypoxischer Gehirnschaden durch Sauerstoffunterversorgung vor der Geburt mit perinataler Asphyxie, hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie, symptomatischer fokaler Epilepsie, Tetraparese und intellektueller Einschränkung können ein Schmerzensgeld in Höhe von 550.000 € rechtfertigen.

Fall:

Der Kläger begehrte materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für sämtliche materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden im Zusammenhang mit seiner Geburt. Der Beklagte zu 1) war als gynäkologischer Belegarzt mit der geburtshilflichen Betreuung beauftragt. Die Beklagte zu 2) war als Beleghebamme am   Krankenhaus ebenfalls bei der Entbindung des Klägers tätig.

Der Beklagte zu 1) ordnete um 8:20 Uhr telefonisch die Weheneinleitung mittels Vaginaltablette Minprostin an. Eine Aufklärung der Kindesmutter über die Risiken der Weheneinleitung durch die Vaginaltablette Minprostin und über Behandlungsalternativen fand nicht statt. Um 8:30 Uhr erfolgte durch die Beklagte zu 2) die Einlage der Tablette bei einer Muttermundweite von 2 bis 3 cm. Das CTG wurde zu diesem Zeitpunkt wieder angeschlossen. Ab 8:47 Uhr war eine regelmäßige Wehentätigkeit mit sieben bis acht Wehen in zehn Minuten festzustellen. Ab 9:00 Uhr zeigte das CTG eine zunehmende Wehentätigkeit, die sich zu einer starken Wehentätigkeit in Abständen von ein bis eineinhalb Minuten intensivierte.

Das CTG war zu diesem Zeitpunkt, 9:15 Uhr, weiterhin unauffällig. Bei eintretender Übelkeit und heftigen Beschwerden wollte die Mutter des Klägers um 9:15 Uhr zur Toilette gehen, weshalb CTG-Aufzeichnung von 9:15 Uhr bis 9:42 Uhr unterbrochen wurde. Für 9:30 Uhr hat die Beklagte zu 2) in ihrer Dokumentation vermerkt, dass die Mutter des Klägers abwechselnd stehe und sich auf die Toilette setze sowie das Vorhandensein von größeren Wehenpausen vermerkt. Um 9:42 Uhr wurde die CTG-Schreibung fortgesetzt. Die fetale Herzfrequenz lag bei 60 bis 70 SPM (Schläge pro Minute). Die Beklagte zu 2) führte einen Lagewechsel der Mutter durch, woraufhin sich das CTG verbesserte. Um 9:44 Uhr wurde der Beklagte zu 1) informiert. Um 9:48 Uhr zeigte das CTG Herztöne bei 120 SPM mit zwischenzeitlichen Abfällen bis ca. 80 SPM und wieder rasche Erholung auf 120 SPM.

Um 9:55 Uhr traf der Beklagte zu 1) im Kreißsaal ein. Die vaginale Untersuchung um 9:56 Uhr ergab einen vollständig eröffneten Muttermund; in der Wehe lag der kindliche Kopf zwischen Beckeneingang und Beckenmitte. Der Beklagte zu 1) führte einen Kristeller-Handgriff durch. Es wurde eine Vakuumextraktion vorbereitet. Um 10:04 Uhr wurde seitens des Beklagten zu 1) eine medio-laterale Episiotomie geschnitten bei unverändertem CTG. Um 10:09 Uhr erfolgte die Geburt des Klägers durch Vakuumextraktion.

Kläger wird nie ein eigenständiges Leben führen können

Der Kläger hatte einen schweren hypoxischen Gehirnschaden durch Sauerstoffunter-versorgung vor der Geburt erlitten mit perinataler Asphyxie, hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, sowie symptomatischer fokaler Epilepsie. Der Kläger leidet letztlich an einer Cerebralparese mit erheblicher motorischer (Tetraparese) und intellektueller Einschränkung und symptomatischer fokaler Epilepsie. Die körperliche Behinderung betrifft sowohl den Rumpf/Kopfbereich als auch die Extremitäten. Ein koordiniertes Bewegungsmuster ist nicht möglich.

Der Kläger ist auf den Rollstuhl angewiesen. Ansonsten ist er bettlägerig, wobei ihm selbst die Drehung von Rücken- auf Bauchseite nicht selbstständig möglich ist. Der Kläger hat keine Kontrolle über seine Kopfhaltung, wenn dieser nicht fixiert ist, fällt er immer wieder auf die Brust. Er kann aufgrund der eingeschränkten Motorik nicht aus dem Glas trinken und isst ausschließlich pürierte Kost. Die Kognition des Klägers ist ebenfalls eingeschränkt, lediglich eine geringe Kontaktfähigkeit ist vorhanden. Der Kläger kann kaum kommunizieren, was das Risiko für eine kürzere Lebenserwartung deutlich erhöht, da er nicht über Krankheitssymptome berichten kann. Auch die symptomatische Epilepsie führt zu einer verkürzten Lebenserwartung. Die Nahrungs- und die Flüssigkeitsaufnahme bergen ein Aspirationsrisiko. Der Kläger wird niemals in der Lage sein, ein eigenständiges Leben zu führen. Er ist vielmehr Zeit seines Lebens rund um die Uhr auf Betreuung und Hilfe angewiesen. Auch ohne besondere Symptome ist eine Kontrolle alle zwei bis drei Stunden erforderlich, bei Auftreten besonderer Symptome eine noch intensivere Überwachung.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG begründet sein Urteil im Wesentlichen wie folgt:

Der Sachverständige bewertet die Verabreichung der Tablette Minprostin (Wirkstoff Prostaglandin) als behandlungsfehlerhaft. Zur Begründung stützt er sich auf die Leitlinien zur Anwendung von Prostaglandin, nach der eine Indikation zur Geburtseinleitung mit Prostaglandinen bei einer „unreifen Zervix“ besteht. Der Sachverständige hat dargelegt, dass eine unreife Zervix in den Leitlinien bei einem Bishop-Score von kleiner gleich fünf definiert ist, wobei sich aus der Dokumentation in der Krankenakte ein Bishop-Score von sechs ergibt. Deshalb ist die Applikation von Prostaglandinen bezüglich der Zervix-Faktoren kritisch zu sehen. Zudem – so der Sachverständige weiter – stellen regelmäßige Kontraktionen eine Kontraindikation für die Einleitung mit Prostaglandinen dar. Bei der Bewertung, dass die Gabe von Minprostin in der vorliegenden Situation als Behandlungsfehler zu werten ist, ist der Sachverständige auch nach ergänzender Befragung durch den Senat geblieben. Der Verweis der Berufung, die Gabe von Minprostin in der vorliegenden Situation sei ständige Praxis, verfängt daher nicht. Aus einer ständigen Praxis lässt sich nicht der fachärztliche Standard ableiten.

Nach tatrichterlicher Würdigung des Geschehens ist der Senat auf Grundlage der überzeugenden sachverständigen Wertung für diesen konkreten Fall der Überzeugung, dass nach zehnminütigem Toilettengang, mithin ab 9:26 Uhr, die Fortsetzung der CTG-Überwachung behandlungsfehlerhaft unterlassen wurde.

Es ist von einem Ursachenzusammenhang zwischen den festgestellten Behandlungsfehlern (Gabe von Minprostin und Unterbrechung der CTG-Überwachung ab 9:26 Uhr) und dem Gesundheitszustand des Klägers (hypoxisch-ischämische Enzephalopathie) auszugehen.

Der Kläger kann eine Umkehr der Beweislast aufgrund des festgestellten Befunderhebungsfehlers – Nichtüberwachung durch CTG von 9:26 Uhr bis 9:42 Uhr – für sich in Anspruch nehmen. Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler kommt eine Beweislastumkehr in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (größer als 50 Prozent) ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und dieser Fehler generell geeignet ist, den eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (BGH, VersR 2011, 1148). Hiervon ist nach den Darlegungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat unzweifelhaft auszugehen. Dem Beklagten zu 1) ist demgegenüber der Nachweis, dass eine leitlinienkonform durchgeführte CTG-Überwachung die Sauerstoffunterversorgung mit der Folge eines Hirnschadens beim Kläger nicht verhindert hätte bzw. diese nur äußerst unwahrscheinlich nicht eingetreten wäre, nicht gelungen.

Weheneinleitungsmittel war Auslöser der Gesundheitsschäden

Weiterhin steht zur Überzeugung des Senats fest, dass das behandlungsfehlerhaft gewählte Weheneinleitungsmittel zu den Gesundheitsschäden beim Kläger geführt hat. Hierzu hat der Sachverständige ausgeführt, dass es keinen vernünftigen Zweifel daran gibt, dass durch die Applikation des Prostaglandine-Präparates eine hyperfrequente Wehentätigkeit ausgelöst wurde, in deren Folge es zu einer fetalen Bradykardie und konsekutiv zu einer Hypoxie gekommen ist. Nach den Darlegungen des Sachverständigen kann ein Wehensturm grundsätzlich zur Deprimierung des Kindes mit Absinken der Herztätigkeit führen.

Der Beklagte zu 1) haftet zudem wegen der unterlassenen Aufklärung der Mutter des Klägers bezüglich der Gabe von Minprostin.

Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass vorliegend zwar keine absolute, aber eine relative Kontraindikation zur Geburtseinleitung mit Minprostin bestanden hat, da eine unregelmäßige Wehentätigkeit vorhanden und ein Fortschreiten des Vaginalbefundes zu verzeichnen war sowie ein Bishop-Score von über fünf vorgelegen hat. Über diesen Sachverhalt sowie über die bestehende Alternative zur Stimulation der Wehentätigkeit durch die Gabe von Oxytocin hätte aufgeklärt werden müssen.

Urteil ist keine Ausreißerentscheidung

Die irreversiblen erheblichsten Einschränkungen, von denen sich der Senat in der mündlichen Verhandlung zumindest teilweise selbst ein Bild machen konnte, rechtfertigen ein Schmerzensgeld in Höhe von 550.000 €. Eine rechnerisch streng festlegbare Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile gibt es nicht, da diese nicht in Geld messbar sind (BGHZ 18, 149). Der Tatrichter ist nicht gehindert, die in der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen bisher gewährten Beträge zu unterschreiten oder über sie hinauszugehen, wenn dies durch die wirtschaftliche Entwicklung oder veränderte allgemeine Wertvorstellungen gerechtfertigt ist. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass die Rechtsprechung bei der Bemessung von Schmerzensgeld nach gravierenden Verletzungen großzügiger verfährt als früher.

Die Entscheidung des Landgerichts hält sich in dem vorgegebenen Rahmen. Neben der Schwere der Beeinträchtigungen des Klägers hat es diejenigen Umstände, die dem Schaden sein Gepräge geben, zutreffend bewertet. Auch wenn der Kläger über gewisse kognitive Fähigkeiten verfügt, ist ihm mangels Kommunikationsmöglichkeit dennoch die Basis für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit genommen worden.

Eine Ausreißerentscheidung liegt jedenfalls nicht vor. Das OLG Köln (VersR 2007, 219) hat im Fall eines bei der Geburt durch einen ärztlichen Behandlungsfehler schwerstgeschädigten Kindes ein Schmerzensgeld von 500.000 € zuerkannt, das OLG Hamm (VersR 2003, 282) 500.000 € Schmerzensgeld bei schwersten Hirnschäden bei der Geburt als Folge eines groben Behandlungsfehlers, das Landgericht Kleve (ZfSch 2005, 235) 400.000 € Schmerzensgeld und 500 € monatliche Schmerzensgeldrente bei einem schwerst geburtsgeschädigten Kind.

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