OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. Juli 2014 – 2 U 101/13, juris

150.000 € Schmerzensgeld

1. Zulässigkeit eines Teilschmerzensgeldes.

2. Schmerzensgeld in Höhe von 150.000 € aufgrund eines Verkehrsunfalls für eine 66-jährige Frau mit Schädel-Hirn-Trauma und weiteren erheblichen Verletzungen mit Dauerfolgen.

3. Zuschlag wegen ungebührlichen Regulierungsverhaltens.

Fall:

Schädel-Hirn-Trauma nach Verkehrsunfall

Die Klägerin erlitt als Insassin eines Pkw schwere Verletzungen, weil ein in entgegengesetzter Richtung fahrender, bei der Beklagten haftpflichtversicherter Pkw in einer Rechtskurve auf die Gegenfahrbahn geriet, wo es zu einem Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge kam.

Die Klägerin hatte u.a. beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 145.000 € Teilschmerzensgeld im Wege der Teilklage zuzüglich Zinsen zu zahlen. Vorgerichtlich hatte die Beklagte bereits 55.000 € Schmerzensgeld bezahlt.

Rechtliche Beurteilung:

150.000 € Schmerzensgeld

Die Klägerin hat nach dem Urteil gegen die Beklagte einen Anspruch auf ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 95.000 € (150.000 € abzüglich bereits geleisteter 55.000 €).

Allerdings ist – nach Auffassung des OLG – die Geltendmachung eines Teilschmerzensgeldes unzulässig.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH gebietet es allerdings der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (Urteil vom 20.03.2001 – VI ZR 325/99, NJW 2001, 3414). Mit dem auf eine unbeschränkte Klage insgesamt zuzuerkennenden Schmerzensgeld werden nicht nur alle bereits eingetretenen, sondern auch alle erkennbaren und objektiv vorhersehbaren künftigen unfallbedingten Verletzungsfolgen abgegolten (Urteil vom 07.02.1995 – VI ZR 201/94, NJW 1995, 1614).

Zwar ist die Geltendmachung eines Teilschmerzensgeldes im Wege einer offenen Teilklage ausnahmsweise dann zulässig, wenn die Möglichkeit der Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen und nicht überschaubar ist. Da die Schmerzensgeldforderung auf Zahlung einer Geldsumme gerichtet ist, ist sie grundsätzlich teilbar. Dem steht nicht entgegen, dass es sich um einen einheitlichen Anspruch handelt. Ob ein einheitlicher Anspruch im rechtlichen Sinne teilbar ist, hängt davon ab, ob er quantitativ abgrenzbar und eindeutig individualisierbar ist und in welchem Umfang über ihn Streit bestehen kann, ohne dass die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen besteht. Ist die Höhe des Anspruchs im Streit, kann grundsätzlich ein ziffernmäßig oder sonst wie individualisierter Teil davon Gegenstand einer Teilklage sein, sofern erkennbar ist, um welchen Teil des Gesamtanspruchs es sich handelt (BGH, Urteil vom 20.01.2004 – VI ZR 70/03, NJW 2004, 1243).

Es konnte nach Meinung des OLG in diesem Zusammenhang ungeklärt bleiben, ob die letztgenannten Voraussetzungen vorliegend gegeben waren. Denn jedenfalls fehle der Klägerin für eine Teilklage ein Rechtsschutzbedürfnis, da weitergehende Ansprüche aufgrund von nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eintretender, objektiv nicht vorhersehbarer immaterieller Schäden bereits von der von ihr begehrten Feststellung der Einstandspflicht für sämtliche ab Klageerhebung – richtig ab Schluss der mündlichen Verhandlung – eintretende immaterielle Schäden – abgedeckt seien. So habe der BGH in seiner Entscheidung vom 20.01.2004 (a.a.O.) ausdrücklich ausgeführt, dass es im Hinblick auf die Möglichkeit einer Feststellungsklage der dort erhobenen offenen Teilklage nicht bedurft hätte, da sich der Kläger durch einen Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für zukünftige immaterielle Schäden seinen Anspruch hätte sichern können. Da im vorliegenden Fall die Klägerin diesen Feststellungsantrag aber geltend mache, könne ein Rechtsschutzinteresse an einer offenen Teilklage nicht angenommen werden.

Der Schmerzensgeldklage konnte jedoch nach Auffassung des OLG im vorgenannten Umfang stattgegeben werden, soweit sie auf einen uneingeschränkten – den vorhersehbaren immateriellen Schaden vollständig umfassenden – Anspruch gestützt werde, wie es die Klägerin zumindest hilfsweise getan habe.

Im vorliegenden Fall war die Lebensbeeinträchtigung der Klägerin als sehr erheblich zu bewerten. Hervorgehoben wurde, dass das Leiden der Klägerin erheblich, aber eben nicht ausschließlich durch die notwendigen operativen und sonstigen medizinischen Behandlungen, u.a. die Implantation eines Shuntsystems (Ventilsystems) unter die Schädeldecke zur Ableitung des Hirnwassers sowie die – auch durch den aufgrund unfallverursachter Verletzungen geschehenen Sturz der Klägerin – notwendigen stationären Aufenthalte geprägt worden ist. Denn darüber hinaus war die Lebensqualität der Klägerin fortdauernd in einem sehr erheblichen Maße eingeschränkt. Insbesondere zu berücksichtigen waren insoweit die armbetonte Halbseitenlähmung rechts, die erheblichen Hirnleistungsdefekte, bleibende kognitive Einbußen im täglichen Leben, Gedächtnisdefizite, psychomotorische Verlangsamung, das bleibende Angewiesensein auf die Hilfe Dritter, die Notwendigkeit künftiger ärztlicher und therapeutischer Behandlung, die mangelnde Konzentrationsfähigkeit sowie die grundlegende Antriebslosigkeit.

Zwar wurde auch berücksichtigt, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt bereits 66 Jahre alt war. In diesem Zusammenhang hat der BGH es als sachgerechtes Kriterium benannt, dass ein verhältnismäßig alter Geschädigter (dort 73 Jahre alt) keinen so langen Leidensweg vor sich habe wie ein jüngerer Mensch und dass deshalb bei ihm im Verhältnis zu einem jungen Verletzten ein geringerer Schmerzensgeldbetrag angemessen sei (Urteil vom 15.01.1991 – VI ZR 163/90, NJW 1991, 1544). Dies führte im Ergebnis aber deshalb zu keiner anderen Bemessung des Schmerzensgeldes, weil nach Auffassung des OLG aufgrund des zögerlichen Regulierungsverhaltens der Beklagten ein erheblicher Schmerzensgeldaufschlag gerechtfertigt war, der den vorgenannten, wegen des Alters der Klägerin vorzunehmenden „Abzug“ vollständig ausglich. Die Zahlung der 55.000 € war auch für die anwaltlich beratene Beklagte – nicht zuletzt angesichts der von ihr selbst angeführten einschlägigen Rechtsprechung – erkennbar völlig unzureichend. Darüber hinaus hatte die Beklagte im Prozess unmissverständlich ausgeführt, dass sie selbst ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000 € für angemessen hielt. Daher handelte es sich um eine treuwidrige, ungebührliche Verzögerung. Die Beklagte konnte sich nicht auf ein – an sich zulässiges – Verteidigungsvorbringen berufen. Dass die Beklagte lediglich ca. ein Drittel des der Klägerin zustehenden Schmerzensgeldes ausgekehrt hatte, stellte für diese eine Manifestierung der bereits erlittenen Schmerzen, aber auch die Zufügung weiteren Leides dar. Denn aufgrund des Nichterhalts des ihr erkennbar zustehenden Schmerzensgeldes war es ihr über viele Jahre hinweg nicht möglich gewesen, sich die Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die von ihr erlittenen Schmerzen zumindest teilweise hätten ausgleichen können. Darüber hinaus hatte es der Klägerin bereits nach der Lebenserfahrung weiteres Leid verschafft, dass sie sich aufgrund der von der Beklagten vorgenommenen Verteidigungsstrategie, die von einem Bestreiten auch offensichtlich von der Klägerin wahrheitsgemäß vorgetragener Tatsachen, wie etwa der eingetretenen Verletzungen, geprägt gewesen war, dem Anschein einer Simulantin ausgesetzt gesehen hatte, der es allein um die Erlangung eines hohen – unberechtigten – Schmerzensgeldes gehe.

Anmerkung:

Hinsichtlich der Zulässigkeit einer Teilklage und ihr Verhältnis zur Feststellungsklage scheint in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung teilweise Unklarheit zu herrschen. Dies wird Veranlassung geben, in der nächsten (35. Aufl.) der Hacks/Wellner/Häcker SGB näher darauf einzugehen.