OLG Hamm, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 26 U 63/15, juris (= GesR 2016, 22)

110.00 Euro Schmerzensgeld

1. Bei dermatologischen Auffälligkeiten muss ein bösartiger Befund differenzial-diagnostisch ausgeschlossen werden. Die histologische Entnahme einer Probe muss durch einen Arzt durchgeführt und darf nicht dem Patienten selbst überlassen werden.

2. Bei einem Melanomverdacht ist der Patient deutlich auf die Notwendigkeit der Wiedervorstellung zum Ausschluss des Verdachts hinzuweisen.

3. Eine fehlerhafte Probeentnahme und der unterlassene Hinweis der Wieder-vorstellung können – bei einem Melanomverdacht – als grober Behandlungsfehler zu werten sein. Bei einer Leidenszeit einer 55-jährigen Patientin mit mehreren operativen Eingriffen und letztlich tödlichem Ausgang ist ein Schmerzensgeld von 100.000,- EUR angemessen.

Fall:

Die 1954 geborene Patientin hat von den Beklagten als Mitgliedern einer hautärztlichen Gemeinschaftspraxis wegen ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache zunächst die Zahlung eines mit mindestens 20.000 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes und die Feststellung weitergehender Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Schäden begehrt.

Rechtsstreit nach Tod der Patientin fortgeführt

Nach dem Tod der Patientin hat der Ehemann als Erbe den Rechtsstreit fortgeführt, das Schmerzensgeldbegehren auf mindestens 100.000 EUR erhöht und auch den Ersatz materieller Schäden verlangt.

Die Patientin war nach einem Stoßereignis mit einem verfärbten Zehennagel von ihrer Hausärztin in die Praxis der Beklagten überwiesen worden. Dort wurde nicht (rechtzeitig) festgestellt, dass es sich um ein Melanom handelte.

Rechtliche Beurteilung:

Das OLG bewertete das Fehlverhalten der Beklagten hinsichtlich der fehlerhaften Probenentnahme und hinsichtlich des unterlassenen Hinweises auf die Notwendigkeit einer Wiedervorstellung jedenfalls in der Gesamtschau als groben Behandlungsfehler, der zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der zuzurechnenden Folgen führte.

Der Senat folgte dem Sachverständigen darin, dass bei dermatologischen Auffälligkeiten insbesondere der bösartigste mögliche Befund differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden muss. Vorliegend kamen in Betracht ein Nagelhämatom, ein Melanom und eine Pilzerkrankung. Das Melanom stellte dabei – als ohne rechtzeitige Behandlung tödlich verlaufende Hautkrebserkrankung – die gefährlichste und schwerwiegendste Erkrankung dar, deren Vorliegen oder Nichtvorliegen sicher abgeklärt werden musste.

Eine Amputation hätte den Tod der Patientin verhindern können

Auch wenn die Patientin von einem Stoßereignis und damit von einer nahe liegenden Ursache für ein Nagelhämatom berichtet haben sollte, hat dies den Beklagten zu 1) nicht von der Pflicht entbunden, die notwendige umfassende Differenzialdiagnostik durchzuführen.

Vorliegend ging der Senat auf der Basis der Ausführungen des Sachverständigen davon aus, dass die Amputation des Zehengrundgliedes in jedem Fall medizinisch notwendig gewesen wäre, sie also den Beklagten nicht anzulasten war. Im Übrigen war das weitere Geschehen von der Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis zum Tode den Beklagten zuzurechnen. Der Senat folgte dem Sachverständigen dahingehend, dass eine hypothetische Chance bestanden hat, dass nach der Amputation eine vollständige Heilung eingetreten wäre. Dies war wegen der Beweislastumkehr ausreichend.

Die den Beklagten zuzurechnenden Umstände rechtfertigten nach Auffassung des OLG ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 EUR.

Drei Jahre Leidenszeit mit tödlichem Ausgang – 100.000 € Schmerzensgeld

Der Senat hat dabei insbesondere berücksichtigt, dass die zu erwartende Lebenszeit der damals 55-jährigen Patientin deutlich verkürzt worden ist. Weiterhin wurde berücksichtigt, dass sich die Leidenszeit der Patientin über ca. drei Jahre erstreckt hat in dem Wissen, dass eine Melanomerkrankung vorgelegen hat, die zunächst nicht erkannt worden ist. Die Patientin hat eine Reihe von belastenden Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, die durch Arztberichte nachgewiesen wurden. Es sind dabei sodann pulmonale Metastasen festgestellt worden, die zu mehrfachen operativen Eingriffen – Thorakotomie und Metastasektomie – geführt haben. Sie haben der Patientin deutlich gemacht, dass die Erkrankung weiterhin bestanden hat und sie sich auf ein letales Ende einstellen musste. Dieser Verlauf rechtfertigte nach Bewertung des Senates ein Schmerzensgeld in der erkannten Höhe.

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