
OLG Hamm, Urteil vom 15. Februar 2019 – 11 U 136/16 – juris
- 253 BGB
- Für bei einem Verkehrsunfall erlittene schwerste Verletzungen ist unter Berücksichtigung und Würdigung der von der Verletzten hinzunehmenden Einschränkungen durch eine Querschnittslähmung, ihres jugendlichen Alters im Unfallzeitpunkt (hier: 18 Jahre), der außerdem bestehenden Beeinträchtigungen durch ein Kurzdarmsyndrom und dem künstlichen Darmausgang, der gestörten Blasenfunktion, der über ein Jahr dauernden stationären Behandlung und der psychischen Belastungen sowie zur Abgeltung der der Verletzten verloren gegangenen Möglichkeit, eine Familie zu gründen und in einer altersgerechten Partnerschaft zu leben, ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € erforderlich aber auch ausreichend.
- Aufgrund des zögerlichen und unangemessenen Regulierungsverhaltens des Kfz-Haftpflichtversicherers ist wegen der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes eine spürbare Erhöhung des Schmerzensgeldes um 30.000 € angezeigt, so dass insgesamt ein Betrag von 430.000 € zuzusprechen ist.
Fall:
Die damals 18-jährige Klägerin erlitt bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2011 schwerste Verletzungen mit schwersten Folgen:
- Querschnittslähmung, dauerhafte Rollstuhlpflichtigkeit
- Kurzdarmsyndrom, künstliche Ernährung über elf Stunden zur Nachtzeit, Entzündungsneigung
- künstlicher Darmausgang, gestörte Blasenfunktion
- stattgehabte MRSA-Infektionen
- Schmerzsymptomatik (insb. Rückenschmerzen)
- Länge der stationären Behandlung von mehr als einem Jahr
- jugendliches Alter, Mobilitätsbeschränkung, große Hilfebedürftigkeit
- 100 Prozent Erwerbsunfähigkeit
- Aufgabe des Studiums
- gestörtes Kälte-/Wärmeempfinden
- Risiken/drohende Folgeschäden: Thrombose, Dekubitus, osteoporotische Frakturen, Schultererkrankungen, neuromuskuläre Skoliosen, diabetogene Stoffwechsellage, Stomakomplikationen, nutritative Störungen
- psychische Belastung
- dauerhaft notwendige Folgebehandlungen
Rechtliche Beurteilung:
Die zulässige Berufung der Klägerin hatte eine Erhöhung des Schmerzensgeldes zur Folge. Das OLG hat insbesondere ausgeführt:
Die Klägerin weist mit ihrer Berufung zu Recht darauf hin, dass bei der Bemessung des Schmerzensgeldes über die erlittenen Verletzungen hinaus der Umstand besonderes Gewicht finden muss, dass es ihr, entgegen ihrer ursprünglichen Vorstellung, nicht möglich sein wird, eine Familie zu gründen und eine altersentsprechende Paarbeziehung zu führen. Soweit die Klägerin geltend macht, das Landgericht habe bei der Bemessung des Schmerzensgeldes den Umfang ihrer Betreuungsbedürftigkeit nicht hinreichend berücksichtigt, verfängt ihr Berufungsangriff nur zum Teil. An die Feststellung des Landgerichts, dass die Klägerin nicht ständig betreuungsbedürftig ist, sondern trotz ihrer erheblichen körperlichen Beeinträchtigung in der Lage ist, ihren Alltag zeitweilig selbstständig zu meistern, ist der Senat gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit des angefochtenen Urteils ergeben sich nicht.
Hilfestellungen gehen über die vom LG dargestellten Aspekte hinaus
Den bestehenden Hilfebedarf hat das Landgericht in seinen Entscheidungsgründen korrekt und umfassend dargestellt. Die erstinstanzliche Anhörung der Klägerin sowie die Einvernahme der Zeugin in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht haben ergeben, dass die Klägerin neben der stundenweise erbrachten Betreuung durch ihre Mutter keine weitere Hilfe abfordert. Ergänzend ist allerdings bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in den Blick zu nehmen, dass die benötigten Hilfestellungen über den Umfang der vom Landgericht dargestellten Aspekte hinausgehen.
Der Klägerin ist es aufgrund der unfallbedingten Behinderung nicht uneingeschränkt möglich, die private Lebensführung so zu gestalten, dass sie daraus im Alltag ein gewisses Maß an Befriedigung und Wohlbefinden zieht. Dies zeigt sich konkret daran, dass sie nicht in der Lage ist, sich selbstständig um den von ihr angeschafften Hund zu kümmern und für die artgerechte Haltung des Tieres ständig Hilfe in Anspruch nehmen muss.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat der Senat gemäß § 287 ZPO die vorstehend aufgeführten Umstände unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen zugesprochenen Schmerzensgeldbeträge abgewogen, um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen herzustellen.
Klägerin ist nicht in der Lage eigenständiges Leben zu führen
Im Vordergrund der Erwägungen steht, dass die Klägerin in jungen Jahren lebensgefährliche Verletzungen mit unumkehrbaren Folgen erlitten hat, die ihr Leben massiv und nachhaltig verändert haben und fortlaufend beeinträchtigen. Schließlich kann als besonders schwerwiegende Folge der Querschnittslähmung im vorliegenden Fall nicht die immer wieder über lange Phasen auftretende Harninkontinenz der Klägerin außer Acht gelassen werden, wodurch das Befinden der Klägerin ebenfalls nachhaltig beeinträchtigt wird und die bis zum heutigen Tage weitere, auch stationäre Behandlungen und operative Eingriffe erforderlich macht. Damit ist den die verbleibende Lebensqualität der Klägerin beeinträchtigenden Wechselwirkungen zwischen der Querschnittslähmung und des Kurzdarmsyndroms hinreichend Rechnung getragen.
Ergänzend hat der Senat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die verlorene Möglichkeit, eine Familie zu gründen, sowie den Umstand berücksichtigt, dass die Klägerin unfallbedingt nicht in der Lage ist, selbstständig einen Haushalt entsprechend ihrer – objektiv angemessenen – Vorstellungen zu führen. Nach der Abwägung aller Umstände hält der Senat allein wegen der erheblichen Unfallfolgen ein Schmerzensgeld von 400.000 € für angemessen. In Übereinstimmung mit dem Landgericht hält der Senat wegen des zögerlichen und unangemessenen Regulierungsverhaltens des Beklagten außerdem eine spürbare Erhöhung des Schmerzensgeldes für angezeigt, sodass insgesamt ein Betrag von 430.000 € zuzusprechen ist.