OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Februar 2016 – 1 U 135/15 –

200.000 € Schmerzensgeld

Fall:

Die im März 2011 geborene Klägerin kam als Frühgeburt in SSW 24 mit einem Geburtsgewicht von 600 g zur Welt. Sie wurde vom Beklagten augenärztlich betreut, der im April 2011 eine Frühgeborenenretinopathie feststellte und im September 2011 einen Cataract beidseits, weswegen er eine Vorstellung in der Universitätsaugenklinik Tübingen anregte. Dort wurde eine Linsentrübung festgestellt und bei einer Operation noch im September 2011 das Stadium 5 der Frühgeborenenretinopathie (Retinopathy of prematurity = ROP V = komplette Netzhautablösung).

Klägerin verlangte mehr Schmerzensgeld für dauerhafte Erblindung

Die Klägerin ist auf Dauer erblindet. Das Landgericht hat – sachverständig beraten – einen groben Behandlungsfehler des Beklagten bejaht. Dieser habe im Juli 2011 eine Wiedervorstellung erst für September 2011 angeordnet. Die in den Leitlinien für die Frühgeborenenretinopathie vorgesehenen Untersuchungsintervalle von ein bis maximal zwei Wochen seien damit massiv überschritten worden. Der grobe Behandlungsfehler rechtfertige die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes von 200.000 €. Daneben hat das Landgericht die Ersatzpflicht des Beklagten für künftige materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden der Klägerin bejaht. Die Klägerin rügte mit ihrer Berufung insbesondere, dass ihr ein um 150.000 € höheres Schmerzensgeld zuzusprechen sei und eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 350 € im Monat.

Rechtliche Beurteilung:

Die Berufung der Klägerin hatte nach einhelliger Auffassung des OLG offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
Die Höhe des zuerkannten Kapitalbetrages von 200.000 € sei nicht zu beanstanden.

Dass das Landgericht für die Bemessung des Schmerzensgeldes relevante Umstände außer Acht gelassen hätte, zeige die Berufung nicht auf. Das Landgericht habe im Rahmen der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes zu Recht insbesondere die vollständige und unumkehrbare Erblindung betont, mit der die Klägerin für nahezu ihr gesamtes Leben konfrontiert sei. Im Rahmen der Genugtuungsfunktion – der im Bereich der Arzthaftung allerdings regelmäßig keine besonders hervorgehobene Rolle zukomme – habe es insbesondere den Grad des Verschuldens berücksichtigt und in Rechnung gestellt, dass der Sachverständige einen groben Behandlungsfehler bejaht habe.

Das zuerkannte Schmerzensgeld von 200.000 € füge sich ein in die Entscheidungen, die etwa in der aktuellen Auflage des Standardwerks von Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge in den Kapiteln „Sinnesorgane – Auge – Verlust oder Beeinträchtigung des Sehvermögens“ und „Sinnesorgane – Auge – Verlust des Auges“ veröffentlicht seien.

Beim Schmerzensgeld wird immer wieder versucht, den Vergleich zu ziehen mit Geldentschädigungen, die bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Presse zugesprochen werden, etwa im „Fall Kachelmann“. Dieser Vergleich ist jedoch unzulässig. Bei einer Entschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handele es sich – so das OLG zutreffend – im eigentlichen Sinn nicht um ein Schmerzensgeld, sondern um einen Rechtsbehelf, der auf den Schutzauftrag aus Art. 1 und 2 Abs. 1 GG zurückgehe. Anders als beim Schmerzensgeldanspruch solle von einer deshalb zu gewährenden Geldentschädigung ein Hemmeffekt für eine rücksichtslose Vermarktung der Persönlichkeit ausgehen, wenn ein Presseunternehmen unter vorsätzlichem Rechtsbruch die Verletzung der Persönlichkeit als Mittel zur Auflagensteigerung und damit zur Verfolgung eigener kommerzieller Interessen eingesetzt hat. Die Geldentschädigung solle auch der Höhe nach ein Gegenstück dazu bilden, dass die Persönlichkeitsrechte zur Gewinnerzielung verletzt worden seien (auch wenn keine echte „Gewinnabschöpfung” erfolge). Maßgebend seien also Präventionsgesichtspunkte, die in den Persönlichkeitsrechtsfällen zu einer deutlichen Erhöhung der zugebilligten Entschädigung führten (BGH NJW 1995, 861, 864 f.). Solche Umstände spielten bei Körperverletzungsfällen und in der Arzthaftung regelmäßig keine Rolle. Verfassungsrechtlich sei das nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu beanstanden (BVerfG NJW 2000, 2187, 2188).

OLG Stuttgart sah keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

Im Übrigen habe sich das Landgericht an den Grundsatz gehalten, dass Schmerzensgeld regelmäßig als Kapitalbetrag und nur ausnahmsweise als Rente zu-gesprochen werde. Die von der Berufung angestrebte Kombination von Kapitalbetrag und Rente sei zwar möglich, aber die Kombination müsse dann zu einem vergleichbaren Ergebnis führen wie die Zahlung eines Einmalbetrages. Der Berufung sei indes nicht zu entnehmen, dass sie die Verringerung des Kapitalbetrages zugunsten einer Rente anstrebe, sondern sie verfolge das Ziel einer doppelten Erhöhung des zuerkannten Betrages (höherer Kapitalbetrag und zusätzliche Rente). Das sei nach dem Gesagten aber nicht gerechtfertigt.

Die Ersatzpflicht zukünftiger immaterieller Schäden wird bejaht, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung Grund besteht, mit dem Eintritt eines weiteren Schadens wenigstens zu rechnen. Auch im Falle eines solchen Feststellungsantrages bleibt offen, wie hoch der Schmerzensgeldanspruch letztendlich sein wird. Der zu zahlende Betrag wird nach den gegenwärtigen Um-ständen und unter Außerachtlassung der noch nicht absehbaren Folgen in gewisser Weise vorläufig als Teilbetrag festgesetzt.Gegen die Zulässigkeit einer Teilklage, wie sie hier vorlag, bestanden keine rechtli-chen Bedenken.Da die Schmerzensgeldforderung auf Zahlung einer Geldsumme gerichtet ist, ist sie grundsätzlich teilbar. Dem steht nicht entgegen, dass es sich um einen einheitlichen Anspruch handelt. Ob ein einheitlicher Anspruch im rechtlichen Sinne teilbar ist, hängt davon ab, ob er quantitativ abgrenzbar und eindeutig individualisierbar ist und in welchem Umfang über ihn Streit bestehen kann, ohne dass die Gefahr wider-sprüchlicher Entscheidungen besteht. Ist die Höhe des Anspruchs im Streit, kann grundsätzlich ein ziffernmäßig oder sonstwie individualisierter Teil davon Gegenstand einer Teilklage sein, sofern erkennbar ist, um welchen Teil des Gesamtanspruchs es sich handelt.

Begriff des Teilschmerzensgeld entscheidend

Macht der Kläger – wie im vorliegenden Fall – nach diesen Grundsätzen nur einen Teilbetrag eines Schmerzensgeldes geltend und verlangt er bei der Bemessung der Anspruchshöhe nur die Berücksichtigung der Verletzungsfolgen, die bereits im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eingetreten sind, ist eine hinreichende Individualisierbarkeit gewährleistet.Von der offenen Teilklage sind allerdings die Fallgestaltungen zu unterscheiden, für die gewöhnlich der Begriff des Teilschmerzensgeldes gebraucht wird und für die sich die Frage stellt, ob über den Schmerzensgeldanspruch bereits in einem früheren Verfahren rechtskräftig abschließend entschieden worden ist. Wird für erlittene Kör-perverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld verlangt, so werden durch den zuerkannten Betrag alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergese-hen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte. Nicht erfasst werden solche Verletzungsfolgen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, d.h. mit denen nicht oder nicht ernstlich zu rechnen war. Dem Geschädigten muss auch in einem solchen Fall für den bisher überschaubaren Zeitraum ein Schmerzensgeld zu- gesprochen werden, so dass das bereits früher zuerkannte Schmerzensgeld sich gegenüber einer durch die spätere Entwicklung bedingten weiteren Schmerzensgeld-forderung als Teilschmerzensgeld darstellt. In einem solchen Fall kann der Geschädig-te weitere Ansprüche nur geltend machen, wenn später Schäden auftreten, die vom Streit- und Entscheidungsgegenstand des vorausgegangenen Schmerzensgeldprozes-ses nicht erfasst wurden und deren Geltendmachung daher dessen Rechtskraft nicht entgegensteht.